Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königin der Engel

Königin der Engel

Titel: Königin der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
Sprunghaftigkeit und ihre fortdauernde Angst bildeten für Martin eine merkwürdige, irritierende Kombination.
    | Ich ziehe noch keine Schlüsse.
    Er betrachtete die Gegenstände im Schaufenster eingehender. Sie schienen für rituelle Zwecke gedacht zu sein; billige, mit Schlangen und Fischen bemalte Plastikhörner, Papierschirme, die mit grimassierenden, von gezackten roten Linien umrandeten Gesichtern verziert waren, getrocknete Fische mit eingeschrumpften Augen, Gläser mit eingelegten Schlangen und Fröschen.
    | Laß uns reingehen, schlug Martin vor.
    | Warum?
    | Eine Ahnung.
    Sie folgte ihm widerwillig durch die Tür in den Laden. Eine Glocke klingelte über ihnen, und das Innere nahm plötzlich so feste Gestalt an, daß es sich nicht mehr von der Realität unterscheiden ließ. Der Effekt war verblüffend; Martin konnte die Kräuter und Blumen riechen, die in den Regalen gestapelt und aufgereiht waren. Er fühlte, wie seine Schuhe sandigen Kies und Sägespäne über den alten Holzfußboden rollten.
    Eine runzlige alte Frau – nicht Erzulie – stand hinter einer Theke und schüttete ein braunes Pulver in eine weiße Emailleschale auf einer Waage. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie mit klarer Stimme. Die Worte waren deutlich zu verstehen. Ihr Gesicht war runzlig und glänzend wie die Haut eines getrockneten Froschs. Ihre gelben Elfenbeinaugen waren voller Humor.
    »Wir haben uns verirrt«, erklärte Martin. »Wir müssen jemand finden, der hier die Macht hat.«
    »Ich führe diesen Laden«, sagte die Frau mit einem breiten Lächeln und zeigte mit einer ausholenden Handbewegung auf die Regale. »Mein Name ist Madame Roach. Was kann ich für Sie tun?«
    Carol trat vor. Die Frau richtete den Blick auf sie. »Armes Kind«, sagte sie, und ihr Lächeln wich einem Ausdruck kummervollen Mitgefühls. »Sie haben in letzter Zeit einiges durchgemacht, nicht wahr? Was ist denn passiert, meine Liebe?«
    Die Frau klappte eine Absperrung hoch und kam kopfschüttelnd und mit der Zunge schnalzend hinter der Theke hervor. »Sie sind überfallen worden«, sagte sie. Sie berührte Carols Langkostüm. Das Kostüm verschwand, und Carol stand in dem wallenden weißen Kleid da, das sie zuvor angehabt hatte. Auf der Vorderseite des Kleides waren Blutflecken. »Die haben Sie ja wirklich schlimm zugerichtet.« Sie wandte sich an Martin. »Sie haben dieses arme Kind hierhergebracht. Warum haben Sie sie nicht beschützt?«
    Martin wußte keine Antwort.
    »Wir sind in einem Alptraum gefangen gewesen«, sagte Carol. Ihre Stimme klang wie die eines kleines Mädchens. »Es gab nichts, was einer von uns tun konnte.«
    »Wenn Sie sich hier nicht auskennen, dann möchte ich wissen, warum Sie überhaupt hergekommen sind.« Die Miene der alten Frau war äußerst mißbilligend. »Das ist kein hübsches Viertel mehr. Früher war es mal wunderschön. Dauernd kam jemand herein, um etwas zu kaufen. Jetzt kommen nur noch die Pendler hier durch, die zum Arbeiten in die Innenstadt fahren und am Ende des Tages sterben. Bei denen sitzt das Geld nicht mehr so locker, und sie brauchen Madame Roach nicht. Warum sind Sie hier?«
    »Wir suchen jemand, der hier die Macht hat«, wiederholte Martin.
    »Wie wär’s mit mir?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Zumindest bin ich bereit, Ihre Fragen zu beantworten«, sagte sie verschmitzt und zwinkerte Carol zu. »Kapiert er überhaupt irgendwas?« fragte sie sie hinter vorgehaltener Hand.
    »Vielleicht nicht«, sagte Carol, immer noch mit ihrer Kleinmädchenstimme.
    »Kommen Sie mit in den hinteren Teil des Ladens, dann verarzte ich Sie«, sagte die alte Frau. »Und Sie, junger Mann, schauen Sie sich hier ruhig um. Alles, was Sie brauchen, finden Sie in diesen Regalen. Aber was Sie auch tun, das Glas auf dem Tisch da dürfen Sie auf keinen Fall aufmachen.«
    Martin drehte sich um und sah ein großes Glasgefäß auf einem niedrigen, schweren Holztisch vor der Theke stehen. In dem Glas lag ein zusammengerollter Kadaver in einer grünlichen, trüben Flüssigkeit. Seine runzlige Haut hatte die Farbe einer grünen Olive. Die blinden Augen in seinem Gesicht waren anklagend auf Martin gerichtet. Martin ging näher heran, um festzustellen, ob er Ähnlichkeit mit Emanuel Goldsmith oder mit Sir hatte, dem männlichen Wesen in dem Traum, aber das war nicht der Fall; der Bursche hier sah ganz anders aus, selbst wenn man berücksichtigte, daß seine Nase und seine Wange seit einer Ewigkeit an die glatte Innenwand des Glases gedrückt

Weitere Kostenlose Bücher