Königin der Engel
Je länger er hinschaute, desto mehr sah er die Züge von Sir in dem hingekritzelten Gesicht.
Er würde verlangen, daß Albigoni all seine Mittel einsetzte, um herauszufinden, was schiefgegangen war und was sie nicht über Goldsmith wußten. Vielleicht sogar, daß Goldsmith unter Therapiebedingungen ins Kreuzverhör genommen wurde.
Was war mit Goldsmith geschehen, daß so ein Ding wie Sir den Thron an sich reißen konnte, den höchsten Platz in seinem Geist? Daß der König, der Bürgermeister abgesetzt oder zum Rücktritt gezwungen worden war?
Mit einer Reihe von Flüchen stieß Martin sich aus dem Sessel hoch und ging ins Bad. Er schaffte es, sich zu rasieren, ohne in den Spiegel zu schauen. Roger Atkins Rätselfrage für AXIS, über die im LitVid berichtet worden war, hallte in seinen Gedanken wider. Er änderte sie: Warum hat das sich selbst wahrnehmende Individuum es vermieden, sein Bild im Spiegel zu zertrümmern?
Weil es nicht auf die andere Seite wollte.
Alles hing von Goldsmith ab.
Er duschte. Der Wasserzähler informierte ihn über seine Zuteilung und klingelte, bevor er den Strom versiegen ließ. Er zog sich ein lässiges kurzes Oberteil und eine Kniehose für den Aufenthalt im Freien an. Draußen würde es bald warm und sonnig sein, ein klarer Himmel, ein starker Geruch nach Meer von den Meereswinden, die über die Küste tanzten.
Nachdem er seine alten, weichen Nanolederschuhe angezogen hatte, ging Martin ins Wohnzimmer zurück, blieb an dem niedrigen Tisch stehen, streckte die Hand aus und machte den Atlas zu. Vielleicht war das alles nur eine Wahnvorstellung. Intellektuell zweifelte er daran, daß so etwas wirklich passieren konnte. Der Geist war ein sehr selbständiges, sich selbst regulierendes System. Ein gesunder, ausgeglichener Geist konnte nahezu allen denkbaren Angriffen standhalten, außer extremem emotionalem Streß, der durch reale Ereignisse verursacht wurde; und die Landschaft war schließlich nur eine ausgeklügelte Fiktion.
Er lächelte erneut, schüttelte skeptisch den Kopf und zog die Tür hinter sich ins Schloß, um einen frühmorgendlichen Spaziergang zu machen.
Er konnte den Eindruck nicht loswerden, daß jemand anders im Gleichschritt zwei Meter hinter ihm hermarschierte.
66
Soulavier befahl der Limousine, den Kofferraum zu öffnen. Mary stand hinter ihm. Sie bewunderte die nebelverhangenen Berge um Terrier Noir herum und fühlte sich nach den paar Stunden Schlaf in der sepulkralen Stille der Kirche erfrischt und wie ein neuer Mensch.
Soulavier holte einen verschlossenen Kasten aus dem Kofferraum und ließ ihn mit einem Fingerabdruck aufspringen. »Kann sein, daß Sie die brauchen«, sagte er und gab ihr die Pistole und die Tafel. »Bitte erschießen Sie mich nicht.«
»Das würde mir nicht im Traum einfallen«, sagte Mary. Sie spürte Soulaviers Verzweiflung sehr deutlich, mehr als noch vor ein paar Stunden, als ihre eigene Erschöpfung sie voll in Anspruch genommen hatte. »Wo fahren wir jetzt hin?«
»Vielleicht an die Küste. Von der Ebene und den größeren Städten halten wir uns fern. Und auf jeden Fall von den Flughäfen. Vielleicht können Sie noch einmal probieren, mit Ihren Landsleuten zu sprechen. Die haben Sie doch bestimmt im Auge behalten.« Er hob den Blick und die Augenbrauen zum Himmel. Dieser Gedanke war Mary auch schon gekommen. Seit den Einschränkungen, die man ihr auferlegt hatte, war sie jetzt zum erstenmal bei Tageslicht eine Zeitlang im Freien.
Sie steckte die Pistole ein und drehte die Tafel in der Hand hin und her. »Ich nehme an, sie versuchen mich ausfindig zu machen. Alles hängt davon ab, wie wichtig ich für das Bundesamt bin. Kann sein, daß sie das Boot nicht ins Schaukeln bringen wollen. Vielleicht glauben sie auch nicht, daß ich wirklich in Gefahr bin.«
»Vielleicht sind Sie das auch nicht«, sagte Soulavier. »Aber wenn die Dinge so schlecht stehen, wie es den Anschein hat… Ich habe heute nacht bei Charles Radio gehört. Bei Hispaniola Rainbow in Port-au-Prince ist alles friedlich und ruhig. Von Radio Santo Domingo habe ich überhaupt nichts gehört. Das gefällt mir gar nicht, aber wie schlimm es ist, weiß ich nicht. Ich könnte über den regierungsamtlichen Kanal Verbindung aufnehmen, aber ich habe Gründe dafür, das nicht zu tun… Unter diesen Umständen ist er für dringendere Gespräche reserviert, und außerdem wüßten sie dann, wo wir sind.«
»Glauben Sie, daß man Sie schlecht behandeln wird?« fragte
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