Königin der Piraten
ausfüllten.
Mit hoch erhobenem Kopf rauschte Maeve hinaus ... an der Wache vorbei ... durch den Korridor, durch die Luke nach oben und hinaus auf das breite Achterdeck. Hinter den Finknetzen sah sie den Geleitzug unter Wolken von Segeln dahinfahren. Colin Lord stand backbords und spähte durch ein Fernglas; der Wind zerzauste ihm das blonde Haar, das unter dem Hut hervorschaute. Als ihn ein Leutnant am Ellbogen fasste, fuhr er herum, gerade als Maeve vorbeiging. Ihr Cousin starrte sie zuerst entgeistert, dann alarmiert an.
»Guten Tag, Cousin«, säuselte Maeve und ging entschlossen an ihm vorbei, um die steile Leiter zum Poopdeck hinaufzuklettern. Obwohl sie allmählich die Kräfte verließen, schritt sie weiter über die große, freie Fläche. Dabei schaute sie konzentriert auf die drei hoch aufgehängten Laternen am Heck und die Wolkenfetzen am Himmel, die sie einrahmten. Sie blieb erst stehen, als sie den Flaggenspind und die Heckreling erreicht hatte und vor ihr nur noch der blaue Himmel und das große, weite Meer lagen ... Und die Kestrel.
»Maeve!«, rief ihr Cousin. »Haltet sie auf!«
Maeve warf die Decke von sich und kletterte auf die Heckreling, auf der sie einen Augenblick schwankend balancierte. Der Wind peitschte ihr Grays Nachthemd um den Leib und riss Haarsträhnen aus ihrem Zopf. Dann holte sie tief Luft und sprang in die Tiefe. Nun pfiff und heulte der Wind ihr um die Ohren, und das Meer kam näher, schneller und schneller, bis sie schließlich so hart aufprallte, dass ihre genähte Wunde unter dem Verband wieder aufriss und sie die Besinnung verlor. Einen Augenblick lang trieb sie auf dem Wasser, bevor die Wellen über ihrem Kopf zusammenschlugen und sie zu sinken begann, tiefer und tiefer ... Dann tauchte sie wieder auf. Vom Deck des Flaggschiffs ungefähr zwei Stockwerke weiter oben drangen alarmierte Schreie zu ihr, die verzweifelten Hilferufe des Bootsmanns, und der Gedanke, dass man sie aus dem Wasser fischen wollte, rüttelte sie wieder wach.
Mit letzter Kraft hob Maeve den Arm, um die Kestrel herbeizuwinken, doch die Mühe hätte sie sich sparen können: Der kleine Schoner wendete bereits und glitt heran, um seine Kapitänin vor dem Ertrinken zu retten.
24 .Kapitel
K larmachen zum Beidrehen, Mr Pearson!« Kapitän Colin Lord stürzte entsetzt an die Reling und starrte auf die einsame Gestalt, die unten in den Wellen zappelte, und den Schoner, der zu ihrer Rettung nahte. »Untersegel, Bramsegel und Oberbramsegel aufgeien und Großmarssegel backholen! Flott, um Himmels willen!«
Pfeifen trillerten, Seeleute rannten auf ihre Posten, das Ruder wurde gesenkt, und die riesige Triton drehte sich mit ächzender Takelage und knarrenden Planken in den Wind. Genau in diesem Moment kam Gray polternd durch die Luke aufs Achterdeck hinauf. Sein junger Flaggleutnant John Stern packte ihn am Arm und rannte heftig gestikulierend mit ihm zu den Finknetzen. »Da, Sir! Genau steuerbords!«
Gray kam gerade rechtzeitig an die Reling, um zu sehen, wie Maeve von ihrer Besatzung aus dem Wasser gezogen wurde. Mit ungläubig aufgerissenen Augen und offenem Mund schaute er zu. Sie war gesprungen. Die Närrin war tatsächlich gesprungen!
Wie gelähmt vor Entsetzen umklammerte er die Wanten und beobachtete, wi e Maeve an der Seite des Schoners hinaufkletterte. Sein nunmehr durchsichtiges Nachthemd klebte ihr tropfnass am Leib, das Haar hing ihr als dunkler Strang den Rücken hinunter - und knapp über ihrer Hüfte sah er einen roten Fleck, der erschreckend schnell größer wurde.
»Herrgott noch mal, sie blutet!«, brüllte er. Der Schock ließ ihn hektisch reagieren. Er fuhr herum und wäre beinahe mit seinem Flaggkapitän, seinem Flaggleutnant, dem Oberleutnant und einem kleinen Fähn-rieh zusammengeprallt. Der Junge sah aus, als würde er sich gleich in die Hosen machen. »Verdammt noch mal, Colin, wie konntet Ihr sie einfach so vom Schiff spazieren lassen?«
Der kleine Fähnrich Jones warf sich todesmutig dazwischen, um seinen Kapitän zu retten. »Es w-war m-m- mein Fehler, S-Sir«, stammelte er tapfer und begann zu zittern, als sein Admiral ihn wütend ansah. »Ich habe gesehen, w-wie sie auf das P-Poopdeck gegangen ist und habe es dem K-Kapitän nicht früh genug gesagt ...«
»Nein, Mr Jones, es war mein Fehler«, widersprach Colin nüchtern. Er stand steif da und wollte nicht zulassen, dass seine Offiziere die Schuld auf sich nahmen. Gefasst begegnete er unerschrocken Grays zornigem Blick.
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