Königin der Piraten
»Ich habe sie auch gesehen, muss aber gestehen, ich war so entgeistert, dass ich nicht so rasch reagiert habe, wie ich es unter anderen Umständen vielleicht getan hätte.«
»Nein, Kapitän«, erklärte Oberleutnant Pearson, » ich bin wohl der Schuldige. Ich stand am nächsten bei der Leiter und hätte die Dame aufhalten müssen ...«
»Zum Teufel, zum Teufel mit euch allen!«, tobte Gray. »Es war mein Fehler, und ich übernehme die Verantwortung dafür!« In hilfloser Wut ballte er die Hände zu Fäusten und gab eine solche Salve übelster Seemannsflüche von sich, dass die Luft beinahe qualmte. »Sie ist mir entwischt, weiß der Teufel wie, aber verdammt, es geht hier um das Warum! Ich war so nahe dran, so verflucht nahe dran, ihr Vertrauen zu gewinnen ...« Er brach ab und wirbelte wieder zu dem Schoner herum. Als er den Kopf senkte und die Stirn in die Hand legte, spürte er das nervöse Schweigen seiner Offiziere schwer auf sich lasten.
»Mr Jones«, hörte er Colin leise sagen. »Sorgt bitte dafür, dass die Barkasse des Admirals klargemacht wird. Ich vermute, er braucht sie in Kürze.«
Lady Catherine ... Grays Betrug ... ihr Vater, der sie doch nicht im Stich gelassen, sondern sie die ganze Zeit für tot gehalten hatte ...
Es war zu viel.
Keuchend, außer Atem und klatschnass hievte Maeve sich mithilfe ihrer entsetzten Besatzung über die Reling. »Die Marssegel hoch«, japste sie und fiel den Piratinnen fast in die Arme. »Schnell!«
»Kapitän! Seht doch nur, Eure Seite ...«
»Das ist nichts, um Himmels willen. Nur ein paar aufgeplatzte Stiche.« Maeve ergriff die Hände ihrer Frauen und schwang sich an Deck. In der vertrauten Umgebung ihres Schiffes fühlte sie sich plötzlich kräftiger und energiegeladen. Hier hatte sie das Kommando; es war der einzige Ort auf der Welt, der ihr eine sichere Zuflucht bot, einen Hafen, ein Zuhause. Schon spürte sie, wie der Geist ihres Schoners sie durchdrang; schon durchzuckte sie die berauschende Erregung, das Gefühl der Unverwundbarkeit. Nun würde Gray sie nicht mehr einholen, nicht mit seinem schweren, mächtigen Flaggschiff. Nicht in einer Million Jahren, nein, niemals. Zum Teufel mit dem verlogenen, durchtriebenen Weiberhelden! »Käpt'n!«
Maeve wirbelte herum und fing geschickt das Entermesser auf, das Aisling ihr zuwarf. Das Gewicht der Waffe zwang sie allerdings fast in die Knie. Aus Gründen des Anstands warf Jia ihr eine leichte Jacke über; dann rannte Maeve zur Ruderpinne hinüber, gefolgt von den beiden irischen Mädchen. Sie spürte, wie das Blut aus ihrer Wunde strömte, doch sie hatte jetzt keine Zeit, sich darum zu kümmern. Gray würde sie verfolgen lassen, das wusste sie genau. Und wenn es nur war, um seinen verdammten Stolz nicht zu verlieren und seine Besitzansprüche auf das neueste Stück in seiner Sammlung von Piratinnen zu behaupten. Und um ihr das Leben zur Hölle zu machen ...
Orla stand am Ruder und schaute sie mit ihren dunklen Augen vorwurfsvoll an. »Majestät ...«
»Nicht jetzt, Orla. Bringt mich erst einmal weg von diesem elenden Schuft, je eher, desto besser! Ich hoffe, er kommt mir nicht noch einmal unter die Augen!«
»Elender Schuft, Käpt'n?«, rief Sorcha und riss beim Anblick des blutbefleckten Nachthemds, das unter Maeves Jacke hervorschaute, entsetzt die Augen auf. Ihre Schwester rannte schon los, um frisches Verbandmaterial zu holen. »Was hat der arme Sir Graham denn jetzt wieder getan?«
Maeve explodierte. »Der arme Sir Graham hat mir stolz seine Geliebte präsentiert, jawohl! Er soll in der Hölle verschmoren, der Schuft, der Halunke, der widerliche, falsche, lausige Dreckskerl!« Sie verzog das Gesicht und schrie das letzte Wort aus tiefster Seele heraus.
Orla kniff nur die Lippen zusammen, starrte am tanzenden Klüverbaum der Kestrel vorbei und fragte ruhig: »Euer Befehl, Käpt'n?«
Maeve senkte den Kopf und verbarg das Gesicht in der Hand. Sie wollte töten, wollte schreien, wollte ...
»Segel für halben Wind setzen, denke ich - ja, für halben Wind, für verdammten halben Wind, und die Marssegel setzen!«
»Ich glaube, Ihr handelt übereilt«, sagte Sorcha altklug, während sie ein Messer zückte, Maeves tropfnasses Hemd aufschlitzte und mithilfe ihrer Schwester den Verband erneuerte. »Der Admiral liebt Euch.«
Maeve hob ruckartig den Kopf. »Hör zu, Schätzchen, ich will dir mal was sagen: Männer wie der Admiral können überhaupt nicht lieben. Er liebt mich - pah! Er ist ein
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