Königin der Piraten
einen Finger verloren hatte und jämmerlich nach seiner Mutter weinte. Dann kam er, die zappelnde Schiffskatze auf dem Arm, mit ernstem Gesicht zum Lager seines Flaggkapitäns und kniete neben ihm nieder.
»Colin.«
Aus dem Augenwinkel sah der Schiffsarzt, wie Gray das Kätzchen vorsichtig dicht neben Kapitän Lord setzte und die schlaffe Hand des Patienten ergriff.
»Er kann Euch nicht hören, Sir«, sagte Ryder leise und sah zu, wie die Katze sich schützend an die Seite des Flaggkapitäns schmiegte. »Ich habe ihm eine ordentliche Dosis Rum verpasst, bevor ich das Bein gerichtet habe. Er verträgt erstaunlich wenig Alkohol, daher fürchte ich, dass es noch dauert, bis er wieder zu sich kommt.«
»Es ist besser so.« Tief bekümmert und besorgt schaute Gray auf. »Ich hätte gerne, dass er in mein Quartier verlegt wird, Ryder. Das hier ist kein schöner Platz zum ...«
Zum Sterben, hatte er sagen wollen.
»Verzeihung, Sir, aber der Kapitän hat mir das Versprechen abgerungen, ihn hier zu pflegen. Er wollte seine Männer nicht im Stich lassen.«
»Natürlich«, sagte Gray verständnisvoll. »Aber mir hat er ja kein solches Versprechen abgenommen. Ich bin sein Admiral, und ich möchte, dass er so bald wie möglich in meine Kajüte verlegt wird, ist das klar?« Er schob den Arm unter Kapitän Lords Nacken und hob den schlaffen blonden Kopf, um die zerknitterte, blutbefleckte Jacke zurechtzurücken, die als Kissen diente. Es war Colins Rock, und die Fransen einer traurigen Epaulette fielen ihm über die Wange. Mit väterlicher Zärtlichkeit strich Gray dem jungen Mann das feuchte Haar aus der Stirn.
»Wird man das Bein retten können, Ryder?«
»Ich weiß es nicht, Sir. Ich habe für ihn getan, was ich konnte, aber die Kugel hat das Bein an drei Stellen durchschlagen ... oder vielmehr zertrümmert. Im günstigsten Fall wird er lediglich hinken. Und im ungünstigsten ...«
»Lassen wir das, Ryder. Das möchte ich gar nicht wissen.«
»Sehr wohl, Sir.« Ryder fiel auf, wie Grays Schultern vor Kummer und Erschöpfung herabhingen und doch unter den funkelnden Epauletten Stolz und Zuversicht ausstrahlten. Ja, das mit dem jungen Flaggkapitän war eine schlimme Sache, aber begriff Sir Graham denn nicht - oder spielte es keine Rolle für ihn -, dass er durch seinen Einsatz einen ganzen Konvoi gerettet hatte? Dass er mit einer geradezu aussichtslosen Situation fertig geworden war?
Dass er Villeneuve überlistet hatte, und einen spanischen Admiral noch dazu?
Anscheinend nicht.
»Wie viele Tote haben wir inzwischen zu beklagen, Ryder?«
»Dreiunddreißig, Sir«, gab der Arzt Auskunft. »Ohne den Maat des Navigationsoffiziers. Ich rechne nicht damit, dass er den heutigen Tag überlebt.«
Gray nickte müde, zog Kapitän Lord die Decke bis ans Kinn hoch und stand schwerfällig auf. Sein Blick war voller Trauer, an seinen Wangen wuchsen Bartstoppeln, und sein vor der Schlacht so blitzsauberes Hemd war nun zerrissen und dreckverschmiert. Einerseits sah er gar nicht mehr wie ein Admiral aus, andererseits jetzt erst recht. Einen Augenblick lang starrte er ausdruckslos auf die Spanten des Schiffes. Er begann, sich mit der Hand durch das dunkle Haar zu fahren, ließ jedoch den Arm wieder sinken.
»Sir?«
»Weitermachen, Ryder. Ruft mich, wenn sich der Zustand meines Kapitäns verschlechtert ...«
»Sir Graham!«
Gray schaute auf. Ein Fähnrich war in den Raum gestürzt; er hatte ganz rote Wangen, weil er über mehrere Decks in dieses Höllenloch heruntergerannt war. Hastig salutierte der Junge und platzte heraus: »Leutnant Pearson sendet seine Empfehlungen, Sir. An Deck gibt es etwas zu sehen, das Ihr Euch seiner Ansicht nach persönlich anschauen solltet!«
Gray betrachtete den Haufen zugedeckter Leichen und spürte, wie ihn der letzte Mut verließ.
Villeneuve.
Er seufzte schwer. »Meine Empfehlungen an den Leutnant, Mr Fay. Ich komme in Kürze nach oben.«
Nachdem der Fähnrich davongeflitzt war, stand Gray einen Moment da und versuchte, sich auf den unvermeidlichen Anblick vorzubereiten. Ihm war klar, dass Villeneuve seine List durchschaut hatte und nun zurückkehrte, um die Sache zu Ende zu bringen. Er betrachtete den unheilbar verwundeten Colin, die Toten und Sterbenden, die nie wieder kämpfen würden. Er dachte an Maeve und ihre ergreifende Entschlossenheit, ihn in den letzten Momenten, bevor er seine Schiffe dem Feind entgegensandte, nicht allein zu lassen. Doch nicht einmal die vage Hoffnung, die sich mit
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