Königin der Piraten
einen schweren, gepolsterten Ledersessel. »Was möchtet Ihr mit mir besprechen, Kapitän?«
Nelsons graue Augen blickten freundlich, und sein Lächeln war aufrichtig, sodass Colin plötzlich beschämt darüber war, dass er sich vor diesem Gespräch gefürchtet hatte. »Es tut mir Leid, dass ich in dieser Angelegenheit nicht früher zu Euch gekommen bin, Sir«, begann er lahm. »Ja, selbst jetzt komme ich mir noch recht töricht vor, dass ich Euch damit belästige, aber ich dachte, Ihr solltet wissen ...«
»Unsinn, Colin.« Nelson beugte sich vor, um ein wenig Obst zu nehmen. »Ich würde es sehr bedauern, wenn Ihr mit einem Problem nicht zu mir kommen würdet. Was habt Ihr auf dem Herzen?«
»Es geht um die Piratenkönigin, Sir.«
Unwillkürlich warf Nelson einen Blick auf sein frisch repariertes Fenster. »Ja?«
»Als sie gestern Abend hier hereingestürzt ist, habe ich begonnen nachzudenken, Sir. Obwohl ich ihr nicht traute, wollte ich da noch nichts sagen. Aber jetzt, im hellen Tageslicht und nach gründlicher Überlegung ... bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Maeve Merrick ... nun ja, eine ... äh ...«
»Ja?«, ermunterte ihn der Admiral geduldig.
»Dass sie mit mir verwandt ist.«
Lord Nelson zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Es ist nämlich so«, fuhr Colin fort. Er spürte, wie ihm heiß das Blut in den Kopf schoss. »Meine Mutter hat einen Cousin namens Brendan Merrick, der vor ungefähr dreißig Jahren nach Neuengland ausgewandert ist. Im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hat er sich einen Namen gemacht, leider auf der gegnerischen Seite - mit einem kleinen Schoner namens Kestrel.«
Inzwischen hatte der Admiral auch die andere Augenbraue hochgezogen. »Kestrel... hieß nicht das Schiff der Piratenkönigin so?«
»Ja, Sir. Und mit Nachnamen heißt sie Merrick.« »Aha!«
»Als sie gestern Abend bei uns war, habe ich nicht sofort zwei und zwei zusammengezählt«, berichtete Colin weiter. »Erst als sie den Namen ihres Schoners erwähnte, wurde mir klar, wer sie ist, Sir. Bei Gott, das ist alles furchtbar peinlich ...«
»Nein, nein, fahrt nur fort!« Nelsons Augen funkelten - er fand an dieser ungewöhnlichen Geschichte offenbar weit mehr Gefallen als der arme Colin, der sie erzählen musste.
»Also, meine Mutter und ihr amerikanischer Cousin Brendan schreiben sich recht häufig, Sir. Nun war ich zwar noch nie in Neuengland und habe unsere Verwandten dort drüben nie ke n nen gelernt, aber ich weiß noch, dass meine Mutter einmal von einer Tochter Brendans erzählte. Das Mädchen sollte eine geradezu unheimliche Begabung haben, die Zukunft vorauszusagen und in Visionen kommende Ereignisse zu sehen. Meine Mutter - sie ist Irin - nannte das die Gabe des Sehens.
Die Tochter machte ihren Eltern großen Kummer. Sie muss recht eigensinnig und schwer zu bändigen gewesen sein und hat sie ganz schön auf Trab gehalten. Dann hat sie sich in einen französischen Seemann verliebt und ist mit dem Schoner ihres Vaters getürmt. Ihr Vater hat sie bis hinunter nach Florida verfolgt, wo er Wrackteile fand. Einigen Augenzeugen zufolge, die das dazugehörige Schiff hatten untergehen sehen, passte die Beschreibung der Kestrel darauf. Das Mädchen ist nie wieder aufgetaucht, und ihre Familie glaubt seitdem, dass sie tot ist.«
»Mein Gott! Was für eine Geschichte, Kapitän Lord!«
»Ja. Ich hatte das alles völlig vergessen - als es passierte, war ich noch ein junger Fregattenkapitän, und auf See stand ich nicht in so enger Verbindung zu meiner Familie. Der Vorfall hat sich mir nicht so eingeprägt, zumal ich nur durch Briefe von Verschwinden und Tod des Mädchens erfahren habe. Daher bin ich nicht gleich auf den Gedanken gekommen, dass das Mädchen, das von zu Hause fortgelaufen ist, und die Frau, die gestern Abend hier in Eure Kajüte geplatzt ist, ein und dieselbe Person sind.«
»Die Piratenkönigin ist also Eure Cousine.«
Der junge Kapitän betrachtete das instand gesetzte Fenster und nickte verlegen. »Ja, Sir«, bestätigte er langsam. »Ich fürchte, so ist es.«
Gray war zu Maeves Haus hinaufgegangen. Auf der Veranda standen Korbstühle kreuz und quer zwischen Blumentöpfen mit blühendem Hibiskus. Einen Augenblick verweilte er dort und betrachtete das tanzende Muster aus Licht und Schatten, das die Sonnenstrahlen auf die kühlen Steinstufen zauberten. Aus dem Haar, das ihm auf den Rücken hing, rann das Wasser bis zu seinen Beinen hinunter. In einem
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