Königin der Piraten
als er ihn umarmte?
Hunderte Augenpaare richteten sich auf Kapitän Hardy, dessen Gesicht von seiner Hutkrempe gegen das Licht der Deckslaternen abgeschirmt wurde. Hardy wusste Bescheid. Das sahen sie daran, wie er plötzlich den Blick senkte und mit der Fußspitze gegen die Decksplanken der Victory trat. Dann schaute er wieder auf und blaffte stirnrunzelnd den Befehl, das Großsegel zu brassen.
Mit seinem wiegenden Gang, an dem man merkte, dass er schon lange zur See fuhr, folgte Gray dem stocksteif aufgerichteten Admiral durch die Luke nach unten in die Kajüte. Er war mit Linienschiffen vertraut, und seine Augen leuchteten, als er den schimmernden Anstrich der Victory bewunderte, ihre Reihe blitzblanker Geschütze und die Feinheiten^ der Handwerkskunst, die sich an jedem Balken zeigten, in jeder Schnitzerei, an jeder Krümmung der Hölzer, durch die sie zu so einem hervorragenden Kriegsschiff wurde. Sie war nicht nur atemberaubend schön, sondern auch ein Kriegsschiff erster Klasse, das beste, das die Königlich Britische Marine ihrem berühmtesten Admiral zu bieten hatte. Gray empfand wärmste Anerkennung für seinen Freund und treuen Ratgeber.
»Die Victory«, sagte er leise und strich über eine vertäfelte Wand. »Es wurde aber auch Zeit, dass sie Eure Flagge trägt.«
Nelson blieb vor seiner Kajüte stehen. »Ja, und sie wird mich auch zu unsterblichem Ruhm tragen.« Er durchbohrte Gray mit seinem Blick, aus dem zugleich Feuereifer, Entschlossenheit und Trotz sprachen. »Darauf gebe ich Euch mein Wort.«
Gray lächelte traurig. »Hoffen wir um Euretwillen und um Englands willen, Sir, dass ein solches Schicksal Euch nicht allzu bald ereilt.«
Nelson zuckte die Achseln. »Ich habe Schulden. Mein Körper ist nur noch ein erbärmliches, zertrümmertes Gerippe. Ich werde von Schuldgefühlen geplagt, von Kummer, ständigen Krämpfen in der Brust und Gott weiß was noch alles. Es wäre doch viel besser, vom Geschütz eines Franzosen niedergestreckt zu werden als von meinen Gebrechen. Nach Euch, Gray.«
Nelson. Stets fatalistisch, stets romantisch. Bei jeder Schlacht erwartete er, ums Leben zu kommen und als Retter seines geliebten Landes unsterblich zu werden. Gray fragte sich, ob er in seiner Kajüte wohl immer noch seinen Sarg aufbewahrte, den er aus dem Großmast des bei Abukir geschlagenen französischen Flaggschiffs hatte anfertigen lassen. Nur zu gut konnte er sich auch heute noch daran erinnern, mit welch morbider Freude Nelson das gruselige Meisterwerk jedem gezeigt hatte, der es sehen wollte.
Aber nein, als sie durch die fürstliche Kajüte gingen, die mit dem langen, glänzenden Mahagonitisch unter den schaukelnden Lampen und den ordentlich ringsherum gestellten Stühlen als Speisezimmer diente, sah Gray keine Spur von dem Sarg. Nur Emma hing selbstverständlich an ihrem gewohnten Platz an der Wand. Er sah, wie Nelson einen raschen Blick auf das Porträt warf, und freute sich, dass das Feuer zwischen den beiden offenbar noch nicht erloschen war.
Gray musste daran denken, wie er die Kestrel in der Dunkelheit hatte verschwinden sehen. Das Herz wurde ihm schwer.
Nelson dirigierte ihn zu einem Sessel. »Vielleicht ein wenig Champagner nach Eurem kleinen Ausflug?«
»Rum, Sir, wenn Ihr welchen habt.«
»Natürlich. Wie konnte ich das nur vergessen? Blackbeards bevorzugtes Getränk.«
Gray verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, ließ sich in einen Sessel direkt unter der dunklen, spiegelnden Fensterreihe am Heck der Victory fallen und lehnte den Kopf an das weiche Polster. Ah, tat das gut, einfach nur zu sitzen. Als er aufmerksam beobachtete, wie sein Freund die Getränke einschenkte, runzelte er besorgt die Stirn. Nelsons Hand zitterte, und er sah nicht gut aus. Er war bleich, seine Wangen waren von der ständigen Überanstrengung eingefallen, und er hatte einen hartnäckigen, fest sitzenden Husten. Sein Blick war jedoch ungetrübt und durchdringend wie eh und je, als er Gray anschaute, ihm das Glas reichte und einen Toast auf Emma, König und Vaterland aussprach.
Emma, König und Vaterland. Für diese drei lebte Nelson, ihnen diente er, und für sie zog er in die Schlacht und zweifellos auch in den Tod. Nein, sein Freund hatte sich kein bisschen verändert. Er war ein wenig älter geworden, ein wenig müder und vielleicht etwas ruhiger, doch im Grunde trieben ihn immer noch die gleichen Leidenschaften um. Gray hob das Glas an die Lippen und ließ das süß brennende Gebräu die Kehle
Weitere Kostenlose Bücher