Königin der Piraten
länger waren als ihre Arme, und an den scheinbar endlosen Stoffbahnen, die sich zusammengeknüllt und um sie herumgeschlungen hatten. Sie begriff, dass sie nicht in ihren eigenen Kleidern steckte, sondern in einem feinen, weichen Nachthemd, das Gray selbst gehörte.
Außer sich vor ohnmächtiger Wut zerrte sie an dem Stoff und zog ihn von ihrer feuchten Haut weg. Selbst diese geringe Anstrengung erschöpfte sie, und ihr wurde übel und schwindlig davon. Dieser elende Schuft sollte auf ewig in der Hölle schmoren! Hatte er ihr die Kleider vom Leib gestreift, als sie besinnungslos gewesen war? Hatte er sie angefasst, ihre Intimsphäre verletzt, sich Freiheiten herausgenommen, die sie ihm nie wieder gewähren würde?
Zum Teufel mit ihm! Ihr schwanden zwar die Kräfte, doch mit jedem keuchenden Atemzug wuchs ihre Entschlossenheit. Obwohl ihr Körper mit heftigen Schmerzen protestierte, stand sie mühsam auf und stolperte durch die Kajüte. Ihr wurde speiübel, und sie musste all ihre Willenskraft aufbringen, um sich nicht zu übergeben. Als die Kajüte mitsamt den Gemälden der längst dahingeschiedenen Piraten sich um sie zu drehen begann, stürzte sie hastig auf die Wand zu, an der unter einem Porträt von Sir Henry Morgan, vor hundertfünfzig Jahren unbestrittener König der Karibischen See, ein altes Entermesser hing.
Sie griff daneben. Ihre Fingernägel gruben sich in das Holz, und sie streifte mit der Hand das Schwert, sodass es ihr auf die Schulter krachte. Maeve ging mit zu Boden, und als sie aufschlug, spürte sie, wie unter dem Verband die Wunde wieder aufriss. Fluchend vor Zorn und Schmerz lag sie da und weigerte sich, ihre Niederlage einzugestehen. Das Schwert lag ein Stück von ihr entfernt, gerade so weit, dass sie es nicht erreichen konnte. Mit Armen und Beinen zog sie sich über den Fußboden. Das Nachthemd, in dem sie sich verwickelte, nahm ihr den Atem. Dann hatte sie das Schwert in der Hand ... o Gott, konnte sie es hochheben?
Verzweifelt umklammerte sie das uralte Heft und zog die schwere Klinge verbissen über den Teppich, Zentimeter für Zentimeter.
»Das wirst du mir büßen, Admiral Sir Graham Falconer ... so wahr mir Gott helfe, das wirst du mir büßen ... Niemand macht die Piratenkönigin lächerlich ... zum Teufel!« Keuchend hievte sie das Schwert hoch an ihre Brust und fiel prompt darüber, sodass sie mit der Stirn auf dem Boden aufschlug und ihre Lippen das kalte Metall berührten. »Zum Teufel mit dir, du Dreckskerl ...« Schwer atmend lag sie da, kniff die Augen zusammen, weil sich alles um sie drehte, und biss sich auf die Lippen, um den kalten Stahl nicht mehr zu spüren. Ihre Arme lagen unter ihrem Bauch, und der Schweiß strömte ihr über Gesicht und Oberkörper, sodass ihr Verband ganz durchnässt wurde. Doch nicht nur Schweiß sickerte in die Binde - Maeve wusste, dass da noch etwas anderes war ...
Ich blute, dachte sie, hob den Kopf und schluckte die Galle hinunter, die ihr hochkam. Furcht stieg in ihr auf, doch sie unterdrückte sie. Ich muss hier raus ... weg von ihm. Sie stützte sich auf die zitternden Arme. Das Haar hing ihr in einem wirren Zopf über die Schulter, Schweiß tropfte von ihrem Gesicht, und das Schwert unter ihr spiegelte ihr jämmerliches Bild.
Dumpfe, unangenehme Wärme breitete sich von ihrer Taille aus, und mit jedem rascheren Schlag ihres Herzens wuchs ihre Panik.
Ich blute. Lieber Gott, ich verblute. Sie schloss die Augen und umklammerte mit den nunmehr kalten, zitternden Fingern den Griff des Schwertes. Es fühlte sich fremd an, zu groß, zu wuchtig. Sie konnte es nicht richtig packen, geschweige denn hochheben. Nun strömte das Blut regelrecht aus ihrer Wunde und sickerte dick und warm durch ihren Verband. Maeve sah, dass auch das klamme Nachthemd in Taillenhöhe einen immer größer werdenden roten Fleck hatte.
So helft mir doch ... Sie schloss die Faust um das Schwert und klammerte sich daran wie an einen Rettungsanker. Benommen hob sie noch einmal den Kopf.
Endlich kam sie auf alle viere, fiel wieder hin und begann, sich auf den Ellbogen über den Fußboden in Richtung der Nachbarkajüte zu ziehen, die als Speisezimmer diente. Die Tür war nur drei - sechs? - Meter entfernt, doch Maeve wusste, sie würde sie nie erreichen. Versuch es, Maeve. Du schaffst es ... Sie hielt inne, schob das Schwert vor sich über den Teppich und rutschte fluchend, weinend und blutend hinterher.
O Gott, hilf mir ... Ich muss es nur bis zur Tür schaffen ... hilf
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