Königin der Schwerter
den Fängen des Schlafs zu befreien.
Schnell, Schwester! Schnell.
Aideen zuckte zusammen. Die Stimme war nicht Teil ihres Traums, sie war hier. Ganz nah bei ihrem Lager schwebte im Schein der Nachtlampe ein fe i nes Nebelgespinst umher. Sie warf einen raschen Seite n blick auf Bethia, die noch immer tief und fest schlief. »Was willst du hier?«, flüsterte sie.
Ihr müsst aufstehen! , wisperte das Geschöpf. Schnell, sonst ist es zu spät. Sie werden ihn töten.
»Ihn?«, fragte Aideen. »Wen?«
Sie, ihn, er, du, mich, ihr. Die kleine Nebelwolke schoss aufgeregt hin und her. Was macht das für einen Unterschied, wenn es gilt, ein Leben zu retten? Beweise. Du wolltest Beweise. Nun rufe ich dich, und du vertr ö delst die kostbare Zeit mit dummen Fragen . Sie schwebte zu Bethia hinüber und strich ihr über das Gesicht. Wecken, du musst sie wecken, sonst ist es zu spät , drängte sie.
»Aber was soll ich ihr denn sagen?« Hin- und herg e rissen zwischen dem Wunsch, dem seltsamen G e schöpf zu glauben, und der Furcht, einen Fehler zu begehen, zögerte Aideen.
Der Dolch. Sag ihr, der Dolch ist in Gefahr.
»Der geweihte Opferdolch von Benize?« Schla g artig war Aideen hellwach. »Wo ist er? Was weißt du d a von?«
Er ist nicht weit von hier in den Hügeln. Er ist nicht in Gefahr. Wohl aber jene, die ihn mit sich führen. So eilt euch, eilt euch, sonst ist es zu spät.
»Also gut, ich wecke sie auf und bitte sie, mit mir hinauszugehen.« Aideen schwang sich aus dem Bett und trat vor Bethias Lager. »Aber ich warne dich. Wenn es nicht stimmt, werde ich Bethia alles von dir und deinen Lügen erzählen.« Sie streckte die Hand aus, um die Seherin zu wecken, zögerte dann aber. Was würde Bethia sagen? Würde sie ihr die G e schichte glauben? Oder würde sie wütend werden und sie dafür bestrafen, dass sie es gewagt hatte, ihren Schlaf zu st ö ren? Unschlüssig schaute Aideen sich um – doch die Höhle war leer. Das Gespinst war fort. Sie musste a l lein entscheiden, was zu tun war.
***
Über das Hecheln, Knurren und Scharren hinweg hörte Hákon Tisea leise beten. Er hatte nie Zugang zu den Göttern gefunden, aber erhoffte für sie, dass sie Trost darin fand. Ihm selbst wurde die Lage unerträ g lich. »Na los. Worauf wartet ihr noch?«, brül l te er die Wölfe an, die sich offenbar nicht zu einem Angriff entschließen konnten.
Ihr Verhalten war seltsam und passte so gar nicht zu den Berichten, die die Schattenwölfe eine blutgier i ge Meute nannten, welche ihre Opfer binnen wen i ger Herzschläge in Stücke rissen. Es hatte fast den A n schein, als halte sie etwas zurück.
»Was ist? Seid ihr zu feige, zwei wehrlose Frauen und einen Waldläufer anzugreifen?«, provozierte Hákon die Wölfe weiter. Er hatte mit dem Leben a b geschlossen. Lieber fand er einen schnellen Tod unter den Zähnen und Klauen der Wölfe, als diesen graue n haften Albtraum länger ertragen zu müssen.
Ein Wolf sprang vor und schnappte nach den Be i nen seines Pferdes. Es machte einen Satz, wi e herte und stieg mit wirbelnden Hufen. Hákon hatte große M ü he, sich im Sattel zu halten. Überzeugt, dass der A n griff jetzt begann, umklammerte er sein Schwert. Aber der Wolf brach die Attacke ab. G e duckt winselnd zog er sich zurück, als sei er g e schlagen worden, und reihte sich wieder in die Ma s se ein. Dann wurde es still. Das allgegenwärtige Knurren verstummte, das Scharren der Krallen e r starb. Nur das leise Hecheln war vereinzelt noch zu hören.
»Warum greifen sie nicht an?«, fragte Tisea in die Stille hinein. Die Frage galt Hákon, aber er war es nicht, der die Antwort gab.
»Jene, die den Dolch bei sich tragen, sind nicht in Gefahr.«
Hákon zuckte zusammen, als er die Frauenstimme hörte, die sich geisterhaft über den Leibern der Scha t tenwölfe erhob. Das Mondlicht gestattete ihm einen Blick über das Rudel, doch wohin er auch schaute, ni r gends konnte er die Gestalt eines Menschen ausm a chen.
»Du bist uns willkommen.« Noch während sie das sagte, tauchte eine Frau inmitten der Wölfe auf Unb e irrt schritt sie zwischen den Albtraumwesen hindurch, deren Schultern ihr bis zu den Hüften reichten, und ging auf Tisea zu. Hákon würdigte sie keines Blickes. »Du hast uns einen großen Dienst erwiesen«, sagte sie freundlich. »Hier endet nun deine Reise. Ich werde an mich nehmen, was du bei dir trägst, und es dorthin bringen, wo es gebraucht wird.«
»Aber …« Tisea zögerte und schaute sich
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