Königin der Schwerter
Konturlose Gestalten, Ausgeburten der Elemente glitten wie eine schwarze Flut durch die Talmulden und kamen rasch näher. Der Sturm nahm weiter zu. Wütend fegte er über das Hochland und trug das Brüllen und Heulen der Dashken weit nach Norden.
»Sie kommen!«, rief Tisea Hákon über das Tosen hinweg zu. »Flieh! Flieh doch endlich. Du kannst es schaffen.«
Hákon zögerte. Sein Blick ruhte auf Tisea, die mit wehenden Haaren und sturmgepeitschten G e wändern wie ein Abbild der wilden Windgöttin auf Silfris R ü cken saß, während Peme sich verängstigt an sie kla m merte. Sein Instinkt sagte ihm, dass er fliehen musste, und die Erfahrung flüsterte ihm zu, dass es klug war, auf diese Stimme zu hören. Sein Ehrgefühl aber verbot es ihm, die beiden Frauen schutzlos zurückzulassen.
»Ich bleibe.« Entschlossen lenkte er seinen Bra u nen neben Silfri und zog sein Schwert.
»Du bist verrückt!« Tisea starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Doch für eine Flucht war es nun zu spät. In das Heulen ihrer Verfolger misc h ten sich Schreie, die wie zur Antwort mal von rechts, mal von links und dann auch vor ihnen ertönten.
»Sie haben uns eingekreist.« Die Blässe, die das Mondlicht auf Tiseas Gesicht zeichnete, schien sich zu vertiefen. Furchtsam irrte ihr Blick umher.
»Sieht ganz so aus.« Hákon verstärkte den Griff um den Schwertknauf. Da waren die Dashken auch schon heran. Von allen Seiten glitt die Schwärze auf sie zu, ein Ring schwarzer Nebelschwaden, aus dem ein gra u enhaftes Kreischen aufstieg.
Peme hielt sich die Ohren zu und krümmte sich, als litte sie große Schmerzen. Tisea zitterte. Sie hatte ihr Messer gezückt, eine geradezu lächerlich anm u tende Waffe angesichts des entfesselten Tobens der Elemente ringsumher.
Auch Hákon verspürte Furcht. Doch anders als T i sea war er ganz ruhig. Das Schwert abwehrbereit vo r gestreckt, wusste er sehr wohl, dass es aussicht s los war, sich gegen die Dashken zu wehren. Ni e mand würde kommen und nach ihnen suchen, ni e mand würde sie vermissen. Sie würden sterben. Hier und jetzt, einsam und …
Der Gedanke blieb unvollendet, als das Heulen und der Sturm so abrupt endeten, als hätte jemand den Befehl dazu gegeben.
Stille kehrte ein. Für einen Augenblick hörte Hákon nur ein dumpfes Rauschen in den Ohren. Dann bemerkte er, dass sich die dunklen Schwaden zu formieren begannen. Wie von Geisterhand flo s sen sie auseinander, um sich an anderer Stelle zu sammeln und die gewählte Gestalt anzunehmen. Immer mehr Augenpaare blitzten in der Dunkelheit auf, während wütendes Knurren, ungeduldiges Scharren und H e cheln die Stille erfüllte.
Schattenwölfe!
Hákon erschauerte. Es war nur eine von vielen Formen, welche die Dashken annehmen konnten, aber es war eine der gefürchtetsten. Er hatte die Schauerg e schichten, die sich um die schwarzen Be s tien rankten, stets für Märchen gehalten. Doch jetzt, da er die Schattenwölfe mit eigenen Augen sah, e r kannte er, dass die Wirklichkeit die Geschichten an Grauen sogar noch übertraf. Die Wölfe waren überall, und sie k a men näher. Mordgier und Blutdurst im Blick, zogen sie den Ring um ihre Beute immer e n ger.
***
Schwester! Schwester!
Die Rufe schwebten durch Aideens Träume, als w ä ren sie ein Teil davon. Körperlos durchzogen sie die Höhlen der Hüterinnen und das Heiligtum, in dem Zarife auf ihrem steinernen Bett ruhte, wande r ten über das sonnenbeschienene Hügelland bis hin zu dem dunklen Streifen hoch aufragender Bäume, der die Grenze zum Waldland bildete, und weiter in ein Dorf, das friedlich im Licht der Morgensonne lag.
Wach auf Schwester!
Das Dorf verschwand, und die Träume formten das Bild einer Frau, die auf einem Hügel stand. Sie war von Kopf bis Fuß in einen grauen Umhang g e hüllt, hatte die Kapuze aber zurückgeschlagen. Ihr goldenes Haar war in der Art der Priesterinnen eng am Kopf geflochten, das jugendliche Gesicht von Schmerz g e zeichnet. In einer flehenden Geste hob sie die Hände, und Aideen sah, dass sie rot von Blut waren.
Schwester!
Das Blut tropfte zu Boden. Wo es die Erde berüh r te, sprossen rote Blumen empor, schneller und immer schneller, bis die Frau inmitten eines blutroten Bl ü tenmeeres stand.
Das Bild verblasste. Aber die Stimme blieb.
Wach auf Schwester!
Aideen bewegte sich unruhig auf ihrem Lager. Bli n zelnd öffnete sie die Augen und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, während sie versuc h te, sich aus
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