Königin der Schwerter
dich für verrückt, so wie ich mich selbst auch für verrückt halte. Eine Seherin ist immer ein wenig verrückt, denn sie sieht Dinge, die anderen verborgen bleiben. Die Fähi g keit, Stimmen von Tieren, Pflanzen und auch von den Geistern zu hören, ist untrennbar mit unserer Gabe verbunden. Es ist nichts Verwerfliches daran.«
Aideen senkte beschämt den Blick. »Verzeiht.«
»Du musst noch viel lernen.« Bethia lächelte ve r ständnisvoll. »Aber es ist noch nicht zu spät. Nach allem, was geschehen ist, möchte ich, dass du mir alles erzählst, was du über die Stimme weißt. Alles, hörst du? Das ist sehr wichtig. Vom ersten Tag bis hin zu dem, was dir heute am Tor widerfahren ist. Jetzt.«
Aideen nickte. Sie überlegte kurz, wie sie beginnen sollte. Dann erzählte sie, wie Bethia es verlangt hatte …
»Sie wollte, dass du die Anrufung verhinderst?« Bethia war außer sich über das, was sie von Aideen erfuhr. »Und sie wagt es zu behaupten, dass Zarife eine Verr ä terin ist?«
»So ist es.« Aideen nickte und nahm einen großen Schluck aus dem Wasserschlauch. Sie war durstig und erschöpft vom langen Reden. »Darum hat sie mir auch die Bilder aus ihren Erinnerungen g e schickt, die das beweisen sollten.«
»Bilder! Pah.« Bethia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du tatest gut daran, ihr nicht zu glauben. Visionen sind leicht zu beeinflussen. Jeder halbwegs geschickte Magier aus Torpak vermag einen solchen Zauber zu wirken.«
»Dann glaubt Ihr auch, dass dieses Gespinst von Karadek zu uns geschickt wurde, um die Hüterinnen zu entzweien?«, wollte Aideen wissen.
»Dieser Gedanke liegt nahe, allerdings …« Bethia verstummte, als in der Ferne ein Ruf ertönte.
Aideen hatte es auch gehört. Sofort ließ sie Silfri anhalten und lauschte reglos. Doch der Ruf wiederho l te sich nicht.
»Es kam von dort«, wagte Aideen nach einer Weile vorsichtig zu sagen, hob die Hand und deutete nach Süden. »Glaubt Ihr, es könnte Zarife …?« Sie führte den Satz nicht zu Ende.
»Es gibt keine Menschenseele zwischen den Hö h len und dem Waldland«, sagte Bethia. »Aber die Richtung stimmt, und es war eindeutig die Stimme einer Frau.« Sie lächelte und nickte Aideen zu. »Wir sollten uns beeilen«, meinte sie voller Tatendrang. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir sie so schnell fi n den.«
***
»Warum bist du mir gefolgt?« Zarifes Stimme bebte vor Zorn. Eine grenzenlose Wut trieb ihr das Blut in heißen Wogen durch den Körper und ließ sie die be i ßende Kälte vergessen, die der Wind über das Hoc h land trieb. Es war Wut über die Unfähigkeit der Hüt e rinnen, die sie hier an diesen einsamen Ort g e rufen hatten, Wut auf ihr altes Ich, dem es in dem kurzen Augenblick der Schwäche, die den Welte n wechsel begleitet hatte, gelungen war, Manon einen Hilferuf zu senden – die dann tatsächlich den Mut aufgebracht hatte, ihrer Freundin durch das Tor zu folgen.
Zarife war außer sich. Dass ihr gleich zu Beginn ein solcher Fehler unterlaufen war, kam einem Ve r sagen gleich – und sie hasste es zu versagen. Manon hätte hier niemals auftauchen dürfen, ihr Wissen um San d ras Vergangenheit konnte ihre Pläne gefährden, die sie in den endlosen Jahrhunderten zwischen L e ben und Tod geschmiedet hatte und die nun kurz vor der Vollendung standen.
Das Einfachste wäre gewesen, Manon in ihre Welt zurückzuschleudern, aber der Durchlass, der sie ausg e spieen hatte, hatte sich längst wieder g e schlossen. Der Weg zurück war versperrt. Jetzt hatte sie nur noch eine Möglichkeit: Sie musste Manon töten. Zarife ballte die Fäuste. Sie hatte keine Skr u pel, sich der störenden Person zu entledigen. Aber sie war noch zu schwach. Sie musste Zeit gewinnen. Zarife horchte in sich hi n ein und spürte, wie sich tief in ihr bereits neue Kräfte regten. Nicht mehr lange, und sie würde einen ve r nichtenden Angriff wagen können.
»Warum ich dir gefolgt bin? Was ist das denn für eine Begrüßung, nach allem, was ich für dich riskiert habe?«, herrschte Manon sie an. »Erst rufst du um Hilfe, und dann führst du dich auf, als sei ich dir hi n terhergelaufen. Das ist wirklich nicht die feine Art.«
»Du hättest nicht hierherkommen dürfen.« Zarife sprach ganz ruhig, während sie auf den richtigen A u genblick zum Zuschlagen wartete.
»Ach, hätte ich nicht? Das hat sich vorhin aber noch ganz anders angehört«, giftete Manon sie an. »Und sag jetzt nicht, ich hätte mir nur eingebildet, dass du
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