Königin der Schwerter
Bleistift in der Hand und den Notizblock auf den Knien, lauschte sie den Worten des Aukti o nators, dessen sterile Latexhandschuhe so gar nicht zu dem dunklen Maßanzug passen wollten.
Von »zahlreich« konnte nun wirklich nicht die R e de sein. Kaum zwanzig Personen hatten sich an diesem Nachmittag im großen Saal des Latinger Rathauses eingefunden, wo von Mitarbeitern des angesehenen Auktionshauses Thormälen & Murr eine Nachlassve r steigerung durchgeführt wurde.
Mit größtmöglichem Abstand zu den anderen B e suchern hatten sich die Gäste auf die gut zweihu n dert Stühle verteilt, die man in Erwartung reichlicher Int e ressenten aufgestellt hatte – ganz so, als könne jeder der Anwesenden ein potenzieller Träger des heimt ü ckischen Virus sein, dem die Gräfin de Lyss vor sechs Wochen zum Opfer gefallen sein sollte.
Wenn es denn überhaupt ein Virus gewesen war.
Sandra hatte da so ihre Zweifel. Immerhin hatte die Gräfin ein hohes Alter jenseits der achtzig e r reicht, und wenn die genaue Todesursache auch noch nicht öffentlich bekannt war, so lag die Mö g lichkeit eines natürlichen Todes infolge Altersschwäche doch zie m lich nahe.
Dessen ungeachtet brodelte in der friedlichen Kleinstadt, in der die Gräfin zurückgezogen eine a n sehnliche Villa bewohnt hatte, die Gerüchteküche. Eine Gemeindeschwester hatte die alte Dame eines Morgens tot im Bett vorgefunden und die Polizei g e rufen. Die Beschreibungen des Anblicks, die tags da r auf in verschiedenen Presseartikeln zu lesen w a ren, gingen von »friedlich schlafend« über »unnatü r lich verrenkt« bis »grauenhaft entstellt.« Was davon der Wahrheit entsprach, war für Außenstehende kaum zu beurteilen, denn jene, die es wissen mus s ten, hüllten sich inzwischen in Schweigen.
Einige Hintergründe aus dem Leben der Gräfin, die, Spekulationen zufolge, durchaus im Zusamme n hang mit ihrem plötzlichen Ableben stehen mochten, hatte der Lokalreporter des »Latinger W o chenblatts« kaum zehn Tage später in einem Artikel veröffentlicht. Nun wussten alle, dass die alte Dame hoch verschuldet war und ihr einziger noch lebender Verwandter, ein Galerist aus England, es entrüstet abgelehnt hatte, das Erbe anzutreten.
Um wenigstens einen Teil der Verbindlichkeiten zu begleichen, hatten die Schuldner schließlich das Au k tionshaus Thormälen & Murr mit der Versteig e rung des gesamten Inventars ihrer Villa beauftragt und diese durch großformatige Anzeigen in der lokalen und ü berregionalen Presse angekündigt.
Die Anzeigenkampagne war auf reges Interesse g e stoßen. Sogar aus dem Ausland waren Anrufe geko m men, in denen sich Interessenten über die vorhand e nen Antiquitäten informiert hatten. Das Augenmerk der Kunden galt dabei vor allem den Kunstgegenstä n den, die die Gräfin von ihren zah l reichen Reisen in den Orient und die entlegenen Wüstenregionen des Nahen Ostens mitgebracht ha t te. Dabei handelte es sich zumeist um antike Schmuckstücke und aufwendig gearbeitete Gefäße sowie rituelle Artefakte und Skul p turen, über deren Verwendungszwecke der Laie nur Vermutungen anstellen konnte.
Im Stadtrat von Latingen hatte man der Auktion mit Spannung entgegengesehen, denn auch mit den Steuern war die Gräfin seit Jahren säumig gewesen. Dann aber war wie aus dem Nichts das Gerücht von dem Virus aufgetaucht, der die alte Dame dahingerafft haben sol l te. Ein Erreger, hochansteckend und tödlich, der überall lauern konnte: nicht nur an den Kleidung s stücken der Gräfin, auch an dem Mobiliar der Villa und natürlich auch an den heißbegehrten Artefakten. Vermutlich war es nur der clevere Trick eines besonders gierigen Kä u fers. Aber die Gerüchte hatten sich rasch verbreitet und hielten sich noch immer hartn ä ckig – ein Umstand, der sich in den geringen Bes u cherzahlen der Auktion nur allzu deutlich widerspi e gelte.
»… zweihundertsiebzig zum Ersten, zum Zweiten und … Dreihundert! Dreihundert zum Ersten … H ö re ich mehr? … Zum Zweiten und zum …« Wumm! Der Hammer des Auktionators donnerte auf den kle i nen Holzblock auf dem Stehpult. »… Dri t ten!«
Sandra rückte ihre randlose Brille zurecht und kri t zelte eine Notiz auf das noch leere Karopapier. Nur dreihundert Euro für eine tönerne, mit Blattgold b e setzte Figur aus dem 12. Jahrhundert, die vermu t lich mehr als das Zehnfache wert war! Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, dass an der Geschichte mit dem skrupellosen Sammler vielleicht doch etwas
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