Königin der Schwerter
vierten Klinge l ton schaltete er sich ein.
»Sandra!« Das war Manon. »Was soll das? Ich weiß, dass du da bist. Was ist los? Warum gehst du nicht ans Telefon? Bist du sauer wegen gestern?« Die Stimme aus dem Lautsprecher klang mit einem Mal besorgt. »Also, wenn du wütend bist, wollte ich dir nur sagen, dass es mir leidtut. War wohl nicht gerade feinfühlig, was ich gesagt habe. Aber du weißt ja, dass ich auf alles Spirituelle allergisch re a giere. Es wäre wirklich schön, wenn du dich kurz melden würdest. Du kennst ja meine Nummer. C i ao.«
Es klackte, als Manon den Anruf beendete.
Sandra machte keine Anstalten, aufzustehen und Manons Wunsch nachzukommen. Von all den Di n gen, zu denen sie an diesem Tag keine Lust hatte, stand Telefonieren ganz oben auf der Liste. Sie wol l te einfach nur ihre Ruhe haben.
»… So kann man in der Taklamakan-Wüste auch heute noch versunkene Städte finden, die entweder durch Wüstenausbreitung und Sandstürme unb e wohnbar wurden oder deren Zuflüsse ausgetrocknet sind. Die archäologischen Funde deuten auf verschi e denste Kultureinflüsse hin, die …«
Sandra horchte auf. Hatte der Auktionator nicht gesagt, dass der Affe von einer Fundstätte in der Taklamakan stammte? Das Thema interessierte sie. Hastig setzte sie die Brille auf und verfolgte aufmer k sam, was der Film über die asiatische Wüste zu beric h ten wusste.
Eine halbe Stunde später wusste sie, dass Taklam a kan so viel bedeutete wie: »Begib dich hinein, und du kommst nie wieder heraus«, dass es in der Wüste ein großes Erdölvorkommen gab und dass die teuerste Straße der Welt zu den Förderanlagen führte. Au f schluss über antike Fundstücke oder versunkene Ku l turen hatte der Film nicht gegeben. Sandra gähnte. Die Dokumentation hatte sie schläfrig g e macht. Nach einer erfreulich kurzen, aber viel zu lauten Werbepause folgte eine Reportage über Meeressäuger. Schöne Bi l der in kristallklarem Wasser, mit nicht minder ei n schläfernder Musik und ebenso hypnotischer Spr e cherstimme. Genau das Richtige, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Sandra kuschelte sich in ihr Ki s sen und zog sich die Decke bis zum Kinn. Knappe zehn Minuten gelang es ihr noch, die Bartenwale auf ihrem Weg durch die endlosen Weiten des Ozeans zu begleiten, dann trug der Schlaf sie fort …
Wieder träumte sie von einer Höhle, die von F a ckeln erhellt war, doch diesmal war die Höhle nicht leer. In der Mitte des Raums erhob sich ein Quader aus massivem Felsgestein, der wie ein Altar aussah. Rechts und links davon glommen in eisernen Becken Kohlen, die ein g e spenstisches rotes Licht auf eine weiß verhüllte Gestalt warfen, die auf dem Altar ruhte. Sie sah aus wie eine ägyptische Königin. Die Arme waren am Körper ang e winkelt, die Hände umfassten einen Stab, der auf ihrem Bauch ruhte. Unter dem schweren, glatten Stoff trat jeder einzelne der mit kostbaren Ringen geschmückten Finger deu t lich hervor. Die Frau war nackt. Augen, Mund und die kurze spitze Nase, ja selbst die Knospen i h rer kleinen Brüste zeichneten sich so lebensnah u n ter dem Gewebe ab, dass Sandra kaum glauben konnte, vor einer Toten zu stehen. Zögernd hob sie die Hand, um das Tuch zu lüften, denn es drängte sie, das Gesicht der Frau zu sehen. Wer war es, die hier in der kalten Gruft eine letzte Ruh e stätte gefu n den hatte? Wie alt mochte sie gewesen sein? We l chen Ausdruck würde sie in den Zügen der Toten finden?
Ihr Herz klopfte heftig, als sie das Tuch vorsic h tig mit Daumen und Zeigefinger berührte. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass sie etwas Verbotenes tat, spürte, dass sie es lieber lassen sollte. Aber die Neugier war stärker. Einen kurzen Moment noch zögerte sie, dann zog sie das Tuch fort …
»Nein!« Ruckartig fuhr sie im Bett auf und schnappte nach Luft. Rasender Herzschlag trieb ihr das Blut in heißen Wogen durch den Körper. Sie ve r suchte, sich zu beruhigen, indem sie sich kla r machte, dass es nur ein Traum gewesen war, hatte damit aber kernen Erfolg.
Die Frau hatte ihr Gesicht getragen.
Sie hatte ihren eigenen Tod gesehen.
Über das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hi n weg hörte sie ein schrilles Klingeln. »Sandra!« Jemand rief ihren Namen. »Sandra, mach die Tür auf. Ich weiß, dass du zu Hause bist.« Jemand hä m merte mit den Fäusten gegen die Wohnungstür und drückte u n ablässig auf den Klingelknopf. »Wenn du nicht sofort aufmachst, hole ich den Schlüsseldienst und lasse die
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