Königsallee: Roman (German Edition)
Zeit stand still.
Der Salon befand sich wie nirgendwo, als die Tür aufflog.
Sodann
Die Eingangstür des Salons und die Schlafzimmertür öffneten sich gleichzeitig. «Verzeihen Sie, ich war blockiert.» Die Zimmerkraft Jeanette Sulzer blickte aufgeregt und machte einen Knicks: «Der neue Türknauf vom Badezimmer klemmte. Von innen. Jetzt bin ich aber frei.» Mit Bettwäsche und Handtüchern über dem Arm eilte sie an Erika Mann vorbei. «Ich sage gleich dem Hausmeister Bescheid.» Verblüfft ließ die Tochter die Angestellte passieren und wandte sich wieder den offenbar nicht minder überraschten Eltern zu. «Gut, daß es ihr passiert ist», sprach sie zum Vater, der kräftig an einer Zigarette zog. Sie griff ein Tassengedeck vom Wagen und begutachtete das Aufgetischte. «Omelett, und ihr rührt es gar nicht an. Rote Trauben, wunderbar», sie zwackte eine ab, «es geht ihnen schon wieder glänzend. Viel zu rasch, nachdem sie ein Dutzend Länder niedergetrampelt haben. Sie arbeiten die Schuld nicht ab, sie arbeiten sie weg. Aber mit der Dynamik, die sie im Krieg entfaltet haben, bringen sie ihren Wiederaufbau auch rasch zuwege. Die sowjetische Zone bezahlt und leidet authentischer. Dort demontieren die Russen die Werkbänke. Dort hängen die Trauben hoch. Stellt euch vor, es ginge allen wieder so prächtig wie hier. Das Land wäre noch furchterregender. Zumindest ist es zerteilt und kann sich nicht mehr wie üblich recken.»
Der Vater blies Rauch. Die Mutter trank einen Schluck Saft. Erika Mann ließ sich in einen Sessel sinken. «Im Hosenanzug wird man durchgehend begafft. Schickt sich nicht. Die Männer wollen keine Konkurrenz.»
«Konkurrenz?» fragte Katia Mann.
Die Tochter schlug ein Bein in mintgrünem Stoff übers andere und zündete sich eine Zigarette an. «Vor zehn Jahren schufteten die Frauen in der Frontindustrie. Und nun sollen sie wieder brave Mädels sein. Das wird nicht funktionieren.»
«Du wolltest schwimmen.»
«Im Keller werden Pool und Massage geplant. Ich bin um die Blocks marschiert.» Die Tochter sah trotzdem nicht so ausgeruht und frisch aus, wie’s wünschenswert gewesen wäre. Gedankensplitter störten ihren flachen Schlaf. Pläne, Erinnerungen, Wahrnehmungen, die zu unumstößlichen Erkenntnissen werden wollten. Doch wem gelang es schon, Menschen, Zeit und Ereignisse ziemlich endgültig einzuordnen? Der Geist blieb diese schreckliche Produktionsmaschine, die kein stabiles Schlußwort fand, das nicht Widerspruch und Ergänzung wachgerufen hätte. War man stark, ließ sich diese Klöppelarbeit des Hirns als intellektuelle Lust bezeichnen; war man matt und bereits zerdacht, wie es Eri bisweilen drohte, gerieten weitere Ideen zur Folter. Und insbesondere Reisen, wie an den Rhein, bedeuteten eine erwünschte Zufuhr von Eindrücken, doch ebenso einen neuen Schwall von Wahrheitsimpressionen, die kein Mensch je durchdringen konnte, um schließlich zu befinden: So sind die Zeitgenossen. Das wollen sie. Diesem Sud entstammen sie. Und dies ist das richtige für alle. – Stets mußte man alles nebeneinander herlaufen lassen, zum Beispiel Lebensgeschichten, und es partiell tolerieren, in Teilen ablehnen. Ein Zugschaffner hatte der erfreuten Eri erläutert, daß er Atomwaffen «grauenerregend» finde, «danach gibt es nichts mehr», daß die Westmächte sie jedoch bräuchten, um nicht vom «Ostblock» erpreßt werden zu können. «Wollen Sie die klassenfreie Gesellschaft des Ostens nicht?» hatte sie nervös zurückgefragt, und der Bahnbeamte hatte, ungefähr bei Kaub, durchaus nachdenklich erwidert: «Ja, wenn ich ein privilegierter Kommunistenführer wäre.» – Die Ideale! Neue. Welche? Die Demokratie? Ja, aber erst, wenn Demokratie von Egoismus, Korruption und Masseneinschläferung, auch mittels Schlagsahne, gereinigt wäre. Vielleicht mußte man überhaupt erst einmal den Globus retten.
Sie schaute sich wie immer unruhig um. Und übertrug diese Stimmung leicht.
Die als linksliberal etikettierte Erika fühlte sich nirgendwo gut aufgefangen, nicht in Ost-Berlin, nicht in der Thyssen-Stadt, wo Profitgier und, wahrscheinlich, Kungelei mit den Bonner Machthabern regierte. Sie sehnte sich, vor allem wenn sie an die Jugendjahre zurückdachte, nach einem neuen Kabarettprogramm, frischen Mitkämpfern, nach der Idee zu einem betörenden Kinderbuch, das den Nachwuchs phantasievoll und kritisch auf eine gefährliche Welt vorbereitete; oder nach einer Aufgabe, bei der ihre Gedankenfülle sich
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