Königsallee
Kopf.
Teil IV
Verletzungen
Why do I find it hard to write the next line? I want the truth to be said.
Spandau Ballett, True
60.
Der Himmel war verhangen und es dämmerte bereits, als Simone das Rathaus verließ. Sie prüfte den Inhalt ihres Portemonnaies: zehn Euro und ein paar Cent-Stücke – vermutlich zu wenig für ein Taxi zur anderen Rheinseite.
Ihr Blick fiel auf das Reiterstandbild des Kurfürsten Johann Wilhelm, den die Einheimischen Jan Wellem nannten. Laut Sockelinschrift war die mächtige Bronzestatue ein Geschenk dankbarer Bürger an den Barockregenten. Simone hatte gehört, dass in Wirklichkeit der Fürst selbst sein Prunkbild in Auftrag gegeben und die Steuern erhöht hatte, um die Kosten stemmen zu können.
Das Hafen-Congress-Centrum ist Krolls Reiterstandbild, ging es Simone durch den Kopf. Mit dem Komplex am Hafen wollte er sich verewigen – mithilfe von Karpow und Wladimir noch weit pompöser, als bislang geplant. Was war der Preis, den die Russen dafür verlangten? Wer besaß nach Abschluss des Deals die Macht in der Stadt?
Sie schritt über das Pflaster und stolperte. Der Absatz blieb intakt, aber ihr Knöchel schmerzte. Sie humpelte weiter.
»Frau Beck!«
Simone blickte sich nicht um. Sie hatte die Stimme erkannt. Lohmar gehörte nicht zu den Leuten, die sie jetzt um sich haben wollte.
Der große Weißhaarige holte sie ein und bot ihr den Arm. »Haben Sie sich verletzt?«
Simone ignorierte ihn.
»Wo wollen Sie hin, Frau Beck? Kann ich Ihnen helfen?«
»Ausgerechnet Sie!«
»Es tut mir leid.«
Simone blieb stehen. »Können Sie mir zehn Euro leihen?«
Sie winkte nach einem der Taxis, die am Burgplatz warteten. Keines schickte sich an, der Kundschaft entgegenzufahren. Der Unternehmensberater hielt einen Schein in der Hand. Es war ein Fünfziger. Simone nahm ihn an sich.
»Bekommen Sie morgen wieder.«
Sie erreichte das vorderste Taxi und ließ sich auf den Rücksitz sinken. »Kaiser-Wilhelm-Ring, bitte.«
Die Tür auf der anderen Seite ging auf und Lohmar stieg zu ihr ein. »Wollen Sie nicht lieber in ein Krankenhaus? Womöglich ist das Sprunggelenk verletzt oder eine Sehne gerissen.«
»Unsinn.«
Sie fuhren die Mühlenstraße entlang. Vorbei an Gerichtsgebäude, Andreaskirche, Kunstsammlung NRW. Simone fragte sich, was der Weißhaarige von ihr wollte. An der Heinrich-Heine-Allee beschleunigte der Fahrer und lenkte den Wagen auf die Brückenrampe.
»Machen Sie sich nichts draus, wenn Kroll sauer auf Sie ist«, sagte Lohmar. »Ich finde, Sie haben richtig gehandelt. Das wollte ich Ihnen nur sagen, Frau Beck. Ich stehe auf Ihrer Seite.«
Wenn du glaubst, auf diese billige Tour ein Remake deines Hamburg-Abenteuers erleben zu können, hast du dich geschnitten, dachte Simone. Sie nannte dem Fahrer die Hausnummer.
Beim Bezahlen genügte ihr ein Zehner für den Fahrpreis inklusive Trinkgeld. Sie warf Lohmar den Fünfzig-Euro-Schein in den Schoß.
Der Weißhaarige öffnete auf seiner Seite ebenfalls die Tür.
Unverschämter Kerl, dachte Simone. Dich nehme ich garantiert nicht mit nach oben. »Gute Nacht, Herr Lohmar.«
Sie schloss die Haustür auf.
Der Mann stand immer noch da. Er sagte: »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen etwas über Krolls neue Freunde erzählen. Damit Sie etwas in der Hand haben, falls er auf die Idee kommt, Sie feuern zu wollen.«
Simone blickte sich um. Der Weißhaarige wirkte, als meinte er es ernst. Doch das konnte trügen.
»So etwas Ähnliches wie ein Dossier?«
Der Unternehmensberater nickte.
61.
Reuter schloss die Schreibtischschublade auf, in der er die beiden Datenträger verwahrte, die ihm in Kochs Haus in die Hände gefallen waren. Unterdessen setzte sich Scholz auf Reuters Stuhl.
»Drei Dinge solltest du wissen«, sagte Reuter. »Erstens hat mein Bruder den Rückkauf des gestohlenen Gemäldes vermittelt und wurde noch am gleichen Tag, als deshalb sein Name in der Zeitung genannt wurde, fast totprügelt. Kaum war er einigermaßen wieder bei Sinnen, rief er Michael Koch an, der jedoch bereits untergetaucht war, vermutlich weil ich ihm schon von dem Vorfall erzählt hatte. Es gibt also eine Verbindung zwischen Michael und meinem Bruder.«
Scholz legte seine Füße auf den Tisch – als wollte er demonstrieren, dass dieses Büro noch immer sein Reich sei.
Reuter schaltete den PC ein und zog sich einen zweiten Stuhl heran. »Zweitens steckt nicht Koksbaron Böhr hinter dem Artnapping, sondern Grusew. Er hat die beiden Ukrainer ins Land
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