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Königsallee

Königsallee

Titel: Königsallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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Unser Kirschkernspucker verabscheut solche Schläge unter die Gürtellinie. Aber noch schlimmer findet er es, wenn sie zuerst bei der Konkurrenz zu lesen sind.«
    »Das heißt?«
    »Dass Richter Gnadenlos sich nicht freuen wird, wenn er morgen die Zeitung aufschlägt. Und dass ich mich mit meinem Abgang hier richtig entschieden habe.«
     
    Es erwies sich als schlechte Idee, über die Königsallee weiterzufahren. Übertragungswagen rangierten und verursachten einen Stau. Scholz erinnerte sich: Das ZDF hatte gestern von hier aus einen Teil der Gottschalk-Show gesendet.
    Marietta fragte: »Wie war das eigentlich mit deiner Tochter?«
    Scholz musste schlucken. »Verkehrsunfall.«
    Der Stau löste sich auf. Marietta gab Gas. Als vor ihnen die Ampel auf Gelb sprang, beschleunigte sie noch einmal.
    Scholz stützte sich am Armaturenbrett ab und hielt die Luft an. Während sie über die Kreuzung rasten, warf ihm die Kollegin einen Seitenblick zu.
    »Scheiße«, sagte sie. »Hast etwa du deine Tochter überfahren?« Marietta bremste und hielt am Straßenrand. Sie musterte ihn mit großen Augen.
    Scholz spürte, wie ihm heiß wurde. Er begann zu zittern.
    Sie nahm seine Hand. »Scheiße, Norbert, sorry!«
    Hinter ihnen hupte es.
    Er zog die Hand zurück.
    Marietta fuhr langsam weiter. »Wie ist es passiert?«
    »Stefanie ist mir mit einer Art Seifenkiste vors Auto gefahren. Wir hatten am Tag zuvor ihren achten Geburtstag gefeiert. Es war im Urlaub. Lanzarote. Wir hatten ein Haus gemietet. Nachbarskinder überließen ihr diese Kiste, obwohl Stefanie viel zu klein dafür war. Sie schoss den Hang hinunter und ich habe sie zu spät gesehen.«
    Man hatte ihm den Lappen nicht weggenommen, ihn nicht einmal bestraft. Es sei nicht seine Schuld gewesen – doch was half das?
    »Wie lange ist das her?«
    »Drei Jahre, fünf Monate und drei Tage.«
    »Sorry«, sagte Marietta noch einmal.
    Scholz wischte sich mit dem Ärmel die Augen trocken. Der Gefühlsausbruch war ihm peinlich. Ausgerechnet der Kollegin gegenüber.
    Sie beschleunigte den Wagen demonstrativ zaghaft, als hätte sie ihn damit trösten können.
    »Sag den anderen nichts«, bat Scholz. »Geht keinen was an.«
    Um auf andere Gedanken zu kommen, blätterte er in dem Moleskine-Notizbuch, das Henrikes Mutter ihm gegeben hatte. Die Richtertochter als angehende Dichterin. Das meiste erschien Scholz als spätpubertäres Geschreibsel, voller Selbstbespiegelung und Weltschmerz.
    Doch ein Gedicht berührte Scholz:
     
    Kommen wir zum Ende
    Wenn mich schon keiner hört
    Laufe gegen Wände
    Hab jeden nur gestört
     
    Das Leben, das ich erbe
    Drückt mir so hart aufs Herz
    Benutzt mich, bis ich sterbe
    Ich spüre keinen Schmerz
     
    Scholz lief es kalt den Rücken hinunter. Als hätte sie ihr Ende vorhergesehen.
48.
    Als Simone erwachte, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte.
    Sie lag angekleidet auf ihrem Bett, als hätte sie es nicht mehr geschafft, sich auszuziehen. Dabei hatte sie gestern auf Alkohol verzichtet – zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern, etwas anderes als Wasser getrunken zu haben. Auch nicht zum Essen, als die Wodkaflaschen gekreist waren.
    Wie war sie überhaupt nach Hause gekommen?
    Ihr Wecker zeigte 12.44 Uhr. Sie musste pinkeln und ihr war flau im Magen. Die Symptome eines schweren Katers waren das nicht unbedingt. Auf der Toilette die zweite Überraschung: Sie trug keinen Slip.
    Simone durchstöberte die gesamte Wohnung nach dem Kleidungsstück. Die einzigen Slips, die sie fand, lagen frisch gewaschen, gefaltet und gestapelt an ihrem Platz im Schrank. Nur ein Teil im Korb für Schmutzwäsche – der blaue Tanga, den sie am Freitag angehabt hatte.
    Während Simone ihre Räumlichkeiten ein zweites Mal absuchte, kam ihr die vage Erinnerung an Traumbilder der vergangenen Nacht: Fremde Leute hatten sie angestarrt, während sie in aller Öffentlichkeit etwas Unanständiges tat. Sie träumte manchmal schräge Dinge, aber so etwas gab es eigentlich nicht in ihrem Repertoire.
    Zutiefst irritiert versuchte sie, zur Alltagsroutine zu finden. Kaffee aufsetzen. Geschirr von gestern in die Spülmaschine stecken. Den Frühstückstisch decken.
    Der Filmriss, der fehlende Slip – Simone fielen Warnungen vor K.-o.-Tropfen ein, die in der Hamburger Diskoszene kursiert waren.
    Die Schnitte mit Orangenmarmelade schmeckte ihr nicht. Der Kaffee war zu stark. Ihre Hand zitterte. Sie lief ins Bad und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um klarer denken zu

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