Königsallee
würde nichts bringen, Edgar noch einmal zu fragen, schoss es Reuter durch den Kopf. Der sture Kerl ließ sich lieber verprügeln, als mit ihm zu reden.
»Was denkst du?«, fragte Marion.
Sein Handy spielte Mission Impossible. Reuter kontrollierte das Display. Katjas Nummer.
Ja, was denke ich, fragte sich Reuter.
Er entschuldigte sich bei Michaels Frau, sprang vom Stuhl auf und nahm das Gespräch an, dabei durch den kleinen Garten wandernd.
Katjas Stimme rief wieder das flattrige Gefühl wach. Sie klang gereizt. Im Hintergrund ein Autogeräusch, als sei sie unterwegs. Sie fragte: »Warum sagst du mir nicht, dass dein Bruder im Krankenhaus liegt?«
Reuter tigerte hin und her. »Hat er dir verraten, wer ihn so zugerichtet hat?«
»Er hat eine Erinnerungslücke und ich finde es scheiße, dass du ihn wie einen Verbrecher behandelst. Er ist dein Bruder!«
»Vielleicht kennt er den Mann, der ihn niedergeschlagen hat. Es könnte der Mörder sein, den wir suchen. Womöglich sind weitere Personen in Gefahr. Edgar deckt den Kerl, wenn er schweigt.«
»Vielleicht, könnte, womöglich. Du solltest dich mal reden hören.«
»Wollen wir jetzt Haare spalten?«
»Warum bist du letzte Nacht nicht nach Hause gekommen?«
»Hör zu, Katja, ich weiß, was du gestern getrieben hast.«
Jetzt war es ausgesprochen.
Er war gespannt, wie sie reagieren würde. Es gab drei Möglichkeiten: abstreiten, herunterspielen oder eine Ausrede anführen. Reuter erwartete, dass sie behaupten würde, er habe sie vernachlässigt.
Doch sie sagte gar nichts.
»Bist du noch dran?«
»Ja, wir müssen reden, Jan, aber ich brauche Zeit. Ich glaube, ich werde heute bei meiner Mutter übernachten. Ich muss erst einmal Klarheit kriegen.«
Sie war nicht abgeneigt.
»Der Typ scheint dich ja schwer beeindruckt zu haben.«
»Er spielt überhaupt keine Rolle. Aber ich fürchte, das begreifst du nicht. Mach’s gut, Jan.«
Aufgelegt. Einfach so.
Reuter kehrte zur Terrasse zurück. Er wusste nicht, woran er war. Am schlimmsten fand er, dass sie sich nicht einmal in Ausreden geflüchtet hatte.
»Krise?«, fragte Marion.
»Sieht man mir das an?« Er stürzte den Kaffee hinunter, der nur noch lauwarm war.
Marion kam zum Thema zurück: »Was machen wir wegen Michael?«
»Darf ich mir mal sein Arbeitszimmer ansehen?«
Im Haus fiel Reuter einmal mehr die geschmackvolle Einrichtung auf – Marions Einfluss, dachte er.
Michaels Büro stand dazu im Kontrast: ein kleines Kabuff, billige Möbel bunt zusammengestellt, Unordnung auf dem Tisch, Kartons mit Zeitungsausschnitten auf dem Boden.
Reuter bückte sich und erkannte, dass es in den Artikeln um Böhr ging, um den Prozess gegen den mutmaßlichen Koksbaron sowie um den Raub des Gemäldes aus der Kunstsammlung – zu Medienberichten geronnene Fälle, an denen Michael in den letzten Jahren gearbeitet hatte.
»Fehlt hier etwas?«, fragte Reuter.
Marion schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Nicht mein Revier.«
Eine Zeitung lag auf dem Tisch. Jan hob sie hoch, darunter kam Papierkram zum Vorschein, in dem es um Grusew ging. Michael hatte also Arbeit mit nach Hause genommen.
Ein Blatt stammte aus Berlin, Auswärtiges Amt. Russische Namen – ein Teil der gefaxten Liste, die Reuter am Freitag angefordert hatte. Weitere acht Personen.
Michael hatte diesen Teil der Antwort aus Berlin abgezweigt und ihm vorenthalten – warum?
Zwei Namen glaubte Reuter zu kennen. Er wollte Gewissheit haben und wühlte in den Kartons mit den Zeitungsausschnitten. In einem Bericht der Morgenpost vom Herbst letzten Jahres wurde er fündig. Die beiden Ukrainer, die wegen des Gemälderaubs verurteilt worden waren – die Namen stimmten überein.
Grusew und die Räuber – aufgrund Grusews Einladung war den Männern aus Kiew ein Visum erteilt worden.
Gedankenarbeit: Grusew hatte sie eingeschleust, Michaels Ermittlungen hatten zu ihrer Ergreifung geführt, danach hatte das Bild weiterhin als verschollen gegolten.
Koch hat etwas zu verbergen, dachte Reuter. Der Kollege steckt bis zum Hals in der Geschichte – auf welche Art auch immer.
50.
»Hier müsste es sein«, erklärte Marietta mit Blick auf die Hausnummer – ein schweinchenrosa gestrichener Altbau im Stadtteil Wersten.
Ein Umzugskarton verhinderte, dass die Haustür zufiel. Auf der Treppe ächzte ihnen ein schlaksiger Kerl im Ringelpulli entgegen, der eine weitere Kiste schleppte.
Zweite Etage. Wenn die Klingeln an der Haustür nach Lage der Wohnungen angeordnet
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