Königsberger Klopse mit Champagner (German Edition)
Worten beschriebener Zettel lag auf der Decke. Mit bösen Ahnungen ergriff ihn die Großmutter und nestelte mit zitternden Fingern ihre Brille aus dem Etui. Die eilig hingeworfenen Zeilen verschwammen vor Aufregung vor ihren Augen, als sie versuchte, sie zu entziffern.
›Beste Großmama!
Der Führer hat an die Mitglieder der Hitlerjugend appelliert, ihren Anteil am Krieg zu leisten! Alle Oberschüler ab fünfzehn Jahren konnten sich melden, und ich bin sehr stolz, bei der Aktion »Heimatluftverteidigung« in die Gruppe der Luftwaffenhelfer gewählt worden zu sein. Wir alle sind von dem glühenden Wunsch erfüllt, Deutschland zu verteidigen, und man wird uns in verschiedenen Städten Deutschlands stationieren. Niemand, auch du nicht, kann mich von diesem Entschluss abhalten. Sei nicht böse, dass ich dich allein lasse – aber ich muss dem Ruf des Führers folgen! Heil Hitler!
Dein Theo‹
Louise tastete nach einem Stuhl und sank schwer hin, der Brief flatterte zu Boden. Sie krampfte die Hände um die Lehne. Theo, der freche, so unbesonnene Theo! Was waren das bloßfür Dummheiten! Luftwaffenhelfer, so ein Unsinn für einen fünfzehnjährigen Burschen! Er würde lachend in sein Unglück laufen. Sie schloss kurz die Augen und von einem plötzlichen Schwindel überwältigt, griff sie mit der Hand ans Herz. Was musste sie nur für Aufregungen durchmachen, in ihrem Alter, wo sie den Frieden ihres Lebensabends genießen wollte! Allein geblieben war sie in dem großen Haus! Tochter, Schwiegersohn und Enkel Lutz lebten nicht mehr, ihre geliebte Magdalena hielt sich, untergetaucht, bei ihrem Bruder in Teplitz auf und sie durfte ihr nicht einmal schreiben, sie nicht sehen! Und Gertraud, Hals über Kopf und ohne große Zeremonie mit Gottfried von Treskow verheiratet, war auf das vor den Toren Königsbergs gelegene Rittergut seiner Familie gezogen und ließ sich seitdem nur noch selten bei ihr sehen. Und jetzt verschwand auch noch Theo, der Kleinste, ihr Herzblatt, der Einzige, den sie noch umsorgen durfte!
Leise, aber verzweifelt begann sie, in ihr Taschentuch zu weinen. Dieser schreckliche Krieg – er hatte ihr alles genommen, was ihr lieb und teuer war. Langsam stieg sie die Treppen herunter, wankte in die Küche, irrte vom Esszimmer mit seiner geschnitzten Anrichte, der großen Silberétagère und dem kostbaren Geschirr aus Meißen in den peinlich blank gebohnerten Salon mit den antiken Möbeln und Erbstücken. Sie öffnete die Flügeltür zur Terrasse, wie als müsse sie Luft hereinlassen, weil die Vergangenheit sie erstickte. In diesem Augenblick begannen die Sirenen in Königsberg ihr schrilles, markerschütterndes Geheul. Louise erschrak, verlor den Halt und rutschte auf dem Teppich aus. Ein dumpfer Aufprall an der Kante der englischen Louis-seize Kommode und sie spürte nicht mehr, wie sie der Länge nach hinschlug und sich eine Blutlache langsam, aber unaufhörlich um ihren Kopf ausbreitete. Der explosionsartige Einschlag eines Bombenvolltreffers mit seinem riesigen Feuerball drang schon nicht mehr in ihr Bewusstsein.
Die junge Ärztin Dr. Gabriele Braun in der Krankenstation des Königsberger Hospitals überprüfte Puls und Blutdruck ihres vor ein paar Tagen eingelieferten Patienten und versuchte, die Nadel für die nötige Infusion zu setzen. Der Mann, der längere Zeit im Koma gelegen hatte, drehte sich jedoch hin und her und war so unruhig, dass es schwerfiel, die richtige Vene zu finden. Fieber und Durchfall hatte man zwar in Griff bekommen, doch alle anderen Krankheitszeichen waren absolut alarmierend. Aber sie hoffte, dass er trotzdem durchkommen würde. Jetzt schlug er die Augen auf und erwachte. »Ganz ruhig!«, sagte sie leise mit sanfter Stimme. »Ich tue Ihnen schon nicht weh!«
»Wo bin ich?«, fragte Paul verwirrt und wollte sich aufrichten. Die Ärztin drückte ihn leicht zurück. »Bleiben Sie liegen, Sie sind noch sehr schwach. Hier im Königsberger Krankenhaus sind Sie gut versorgt.«
»Im Königsberger Krankenhaus?«, wiederholte Paul verständnislos.
»Ja, Sie sind in Ihrer Heimatstadt!«, erwiderte die Ärztin.
»Dann ist es gut«, Paul schloss die Augen und lächelte matt. Das alte Krankenhaus am Hinterrossgarten am Schlossteich! Aber wie kam er hierher? Seine Erinnerungen an den langen Transport und die rüttelnde Zugfahrt waren wie ausgelöscht.
In diesem Moment trat der Oberarzt mit einem überlegenen Lächeln an das Bett des Kranken und nahm ihr die Spritze aus der Hand. »Geben
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