Königsberger Klopse mit Champagner (German Edition)
wahnsinnig, »Kolja!«
Mit einem für seinen mageren Körper fast übermenschlichen Ruck stieß sich der Junge jetzt noch einmal ab und landete mit der Brust auf dem Holzbrett. Aber die Last der schweren Kleidung ließ ihn mit zäher Gleichmäßigkeit wieder Zentimeter für Zentimeter herabrutschen.
»Halt dich fest, verdammt noch mal!«, schrie Paul wieder, ohne zu wissen, ob er verstanden wurde. »Streck dich lang aus und beweg dich nicht zu viel!«
Während das Eis unter ihm knackste und das Wasser bedrohlich gluckerte, zog er an und begann, ganz vorsichtig zu kurbeln. Langsam, ganz langsam, wie in Zeitlupe mithelfend, tauchte Koljas Körper aus dem sich in kleinen Wirbeln drehenden Nass. Paul hielt den Atem an und zog ihn Stück für Stück auf dem Brett zu sich. Jetzt kam es darauf an, dass sie beide sicher das Land gewannen. Am Seeufer war es still geworden, die Frauen standen wie erstarrt da, manche mit offenem Mund und andere, Tanja eingeschlossen, hatten die Schürze vors Gesicht geschlagen, weil sie die Spannung beim Zusehen nicht ertragen konnten.
Wie zuvor begann Paul sich mit aller Kraft nun von der sicher scheinenden Scholle abzustoßen und wie auf Schlittenkufen, das Brett mit Kolja im Schlepptau, dem Ufer zuzugleiten. Doch sie hatten das rettende Land noch nicht erreicht, als das Blech an einer tückischen Stelle an zwei aneinandergeschobenen Schollen stoppte, auf eine dünne Stelle geriet und mitsamt seinem Gewicht erneut durch das Eis brach. Paul landete mit einem lauten Schrei im eisigen Wasser, und als er sich nach Kolja auf seinem Brett umsah, den er am Seil hinter sich herzog, war der Junge wie ein Stein in den eisigen Fluten versunken.
16. Kapitel
E IN SCHWERER E NTSCHLUSS
Die Hebamme mit der schmierigen Schürze war völlig verdutzt, als Magdalena von der Liege heruntersprang, sie mit einem Stoß beiseiteschob und wie von Furien gejagt hinaus durch das muffige Wartezimmer an einer neu angekommen Patientin vorbeischoss. Das Knallen der Tür ließ die beiden zusammenfahren, und sie sahen ihr durch das Fenster nach, wie sie über den Hof lief.
»Die kommt nicht wieder«, stellte der Arzt resignierend fest.
»Na ja«, sagte die Hebamme mit einem Blick auf die Schachtel, »wir können sie ruhig gehen lassen – das Geld haben wir auf jeden Fall.«
Magdalena lief wie von Sinnen in Zickzackkursen den ganzen Weg und ohne die Straßenbahn zu nehmen durch die Stadt. Die Tränen rannen über ihre Wangen, und sie wischte sie nur von Zeit zu Zeit fort. Plötzlich ertönte wieder das bekannte Geheul der Sirenen. Fliegeralarm. Alle Leute auf der Straße begannen kreuz und quer durcheinanderzurennen, um den nächsten Luftschutzkeller aufzusuchen. Der Himmel verdunkelte sich, und das Geschwader der todbringenden Maschinen raste so schnell heran, dass nicht alle gleich einen Unterschlupf finden konnten. Blindlings lief sie den anderen nach und drängte sich mit einer Gruppe verängstigter Passanten auf einer Kellertreppe eines ihr fremden Hauses, die in unbekannte Tiefen wiein eine dunkle Gruft hinunterführte. Das Licht war ausgefallen, und man musste sich mithilfe des Hauswartes vorantasten. Irgendjemand entzündete ein Streichholz, und sie sah um sich herum Regale, gefüllt mit Weinflaschen verschiedenster Marken. Es war viel zu voll, die meisten kauerten sich auf den Boden oder verteilten sich auf herumstehenden Kisten oder Möbeln. Magdalena schlang die Arme um den Kopf und legte die Stirn auf die Knie, um die verängstigten Mienen der anderen nicht zu sehen. Um sie herum wackelte es beängstigend, das bekannte Grollen und Fauchen über ihnen ließ den Boden erzittern und die Regale bedrohlich hin und her schwanken. Ganz plötzlich gab es einen Knall, ein darauf folgendes Rumpeln, und das Regal stürzte mitsamt der splitternden Weinflaschen auf die daruntersitzenden Menschen. Magdalena, die in der Mitte gesessen hatte, sprang auf. Schreie ertönten, Tumult entstand, und Panik brach unter denen aus, die jetzt nur noch hinauswollten. Es war stockfinster, aber sie spürte, wie eine Staubwolke, durchsetzt mit dichtem Qualm, durch den Raum zog. Sie bekam keine Luft mehr, musste husten, während sie versuchte, irgendeine Richtung zu erkennen. In der Schwärze, die den verschütteten Keller erfüllte, waren nur noch Umrisse auszumachen. Wie eine blinde Viehherde, Ellenbogen und Fäuste gebrauchend, wurde sie von den Nachdrängenden irgendwohin geschoben. Unter ihren Füßen fühlte sie Stufen. Die
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