Königskinder (German Edition)
rauchen und reden. Wenn das Licht im Zimmer ausgeschaltet ist, lugen sie hinaus in die schwarze Nacht und sehen sich die Leuchtkugeln an, die die Flieger der Luftwaffe abwerfen. Dr. Pollak strickt, Dora löst Kreuzworträtsel. Ganz London wartet auf die All-Clear -Sirene, die die Menschen am frühen Morgen erlöst. Wer kann, geht zu Bett und döst einige Stunden in den Tag hinein. Viele gehen vors Haus, um nachzusehen, was die Bomben in der Nacht angerichtet haben. Sie kehren die Scherben der zerborstenen Scheiben zusammen und nageln Bretter vor die glaslosen Fenster. Sie stehen in Gruppen beieinander und sprechen über die vergangene Nacht. Kinder tragen selbstgebastelte Gewehre und spielen auf dem Schutt Luftschutzwarte. Der Luftdruck hat den Inhalt von Geschäften auf die Straße geschleudert, auch die Regale, auf denen die Ware aufgeschichtet war. Eine günstige Gelegenheit für Plünderer.
Wenn die Sirenen tagsüber heulen, während sie nicht zu Hause sind, suchen die Frauen Zuflucht in einem der öffentlichen Luftschutzbunker, die Platz für sechzig bis siebzig Menschen bieten. Dort hüten sie sich, Deutsch zu sprechen, doch ihr deutscher Akzent ist verräterisch. Also schweigen sie.
Noch vor Kriegsausbruch empfahl die Regierung die Nutzung privater und dezentraler Luftschutzeinrichtungen und verteilte Baumaterial für die Errichtung von «Anderson shelters», Unterständen aus Wellblech, die im Garten in die Erde versenkt werden. Abgeraten wird, in den U-Bahn-Stationen Unterschlupf zu suchen, weil diese nicht über genügend Toiletten verfügen und die Menschen Gefahr laufen, auf die Gleise zu fallen. Über diese absurde Begründung angesichts der permanenten Todesgefahr vom Himmel reißen die Leute Witze. Das Ministerium für Innere Sicherheit und Verkehr veröffentlicht einen «dringenden Appell» an die Londoner, außer in absoluten Notfällen auf die Nutzung von U-Bahn-Stationen als Luftschutzkeller zu verzichten.
In der Nacht vom neunzehnten auf den zwanzigsten September nehmen Tausende von Londonern die Sache dann selbst in die Hand. Schon am Nachmittag beginnen sie, sich in U-Bahn-Stationen mit Bettzeug und Proviant für die Nacht einzurichten. Während der abendlichen Stoßzeit haben viele ihr Revier auf den Plattformen bereits abgesteckt. Die Polizei interveniert nicht. Die Regierung erkennt die wilde Entschlossenheit der Menschen und beschließt, den kurzen Linienabschnitt zwischen Holborn und Aldwich zu schließen und in einen Luftschutzbunker zu verwandeln. Die Schienen werden mit Beton aufgefüllt und verstärkte Hochwasserklappen installiert, die bei einem durch Bombenschäden verursachten Durchbruch des Uferdamms geschlossen werden können. Siebenundneunzig Stationen werden mit Schlafpritschen für 22000 Menschen ausgestattet, samt Erste-Hilfe-Bereitschaftsdienst, Kantinen und chemischen Toiletten. Bunkerwarte werden ernannt, die für Ordnung sorgen, Erste Hilfe leisten und den Menschen im Fall einer Überflutung des Tunnels beistehen. Doch bei einem direkten Treffer bieten auch die Stationen der Londoner Untergrundbahn keinen vollkommenen Schutz. Am sechzehnten September sind in der U-Bahn-Station Marble Arch zwanzig Menschen getötet worden. Trotzdem gibt es wenige Tage darauf einen Ansturm auf die U-Bahn-Station Holborn.
Irka geht oft in die Stadt, um nachzusehen, was die Bomben ihrem liebgewonnenen London in der Nacht angetan haben. Auch weil sie die Untätigkeit zu Hause nicht aushält. Sie trägt dann immer eine Tasche mit ihren Dokumenten und dem Allernotwendigsten für die Nacht im Luftschutzbunker bei sich. Außerdem ihre Füllfeder und ein paar Bogen Briefpapier.
London, 29. September 1940
Mein liebster Eri, wieder einmal schreibe ich Dir und versuche zu vergessen, dass der Brief monatelang unterwegs sein wird. Hier ist Herbst, und heute ist Sonntag. In Gedanken fliege ich um die Welt, die zwischen uns liegt, und warte weiter. Mein Gepäck ist abreisebereit, man beteuert mir, dass ich fahren werde. Also warte ich. Frau Baswitz hat mir gesagt, Du hättest telegraphiert. Ich weiß, Deine Reise war sehr stürmisch, und ich bin so froh, dass Du schon dort bist, in Sicherheit unter einem freundlichen Himmel.
Anfangs ging es mir gut bei Dr. Pollak, doch seit das Leben in London durch die Fliegerangriffe unerträglich geworden ist, gibt es Differenzen. Unsere Nerven sind angespannt, und in solchen Zeiten ist es nicht leicht, sich mit fremden Menschen zu vertragen. Die Käthe ist ein
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