Königskinder (German Edition)
lieber Kerl, auch die Dora, aber Du weißt, sie haben uns immer schon nervös gemacht. Frau Pollak hat sich mir gegenüber sehr nett benommen, aber sie ist doch eine etwas unangenehme Person. Wahrscheinlich sollte ich lieber verschwinden.
Das Leben, das wir seit einigen Wochen hier in London führen, ist unbeschreiblich. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, kann man es sich nicht vorstellen. Alle Werte sind nebensächlich geworden, es zählt nur noch das nackte Überleben.
Wenn nur die Sehnsucht nicht so groß wäre! Soll ich Dir schreiben, wie sehr ich Dich lieb habe und vermisse? Soll ich Dir die leeren Tage schildern und die Nächte voller Furcht, die ich ohne Dich verbringe? Es ist nicht notwendig, Du weißt es ja. Wieder einmal müssen weißes Papier und Feder meine Liebe zu Dir festhalten.
Ich bemühe mich, standhaft und mutig zu bleiben. Vielleicht fahre ich ja bald zu Dir. Man wird das Versprechen doch halten, was meinst Du? Ich habe einige Frauen kennengelernt, die auch fahren möchten. Alle warten. Halte die Daumen, mein Junge, vielleicht bin ich schon unterwegs, wenn Du diesen Brief bekommst, vielleicht schon in Deiner Nähe. Ich werde Dir etwas Geld schicken, aber leider kann ich nicht viel entbehren. Die Unterstützung, die ich bekomme, reicht nicht zum Leben. Ich soll keine Arbeit annehmen, sagt man mir, weil ich ja doch bald wegfahre, eine verzwickte Lage.
Kannst Du Dir vorstellen, dass Du mich in Deine Arme schließt? Es wird mir warm ums Herz, wenn ich an Deine blauen Augen denke. Eri, Eri, wer hätte das gedacht? Ich sehe Dich vor mir. Wenn Du nur bei mir wärst, würde ich mich vor nichts fürchten. Aber bald sind wir beisammen, bestimmt.
Deine Irka
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20
Anfang September soll in Australien das Frühjahr eben erst begonnen haben. Doch schon am Vormittag brennt die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Mit steifen Gliedern klettern die Männer aus dem Zug, der sogleich langsam aus dem Bahnhof rollt. Soldaten auf Pferden tänzeln die Schienen entlang und lassen die Gefangenen nicht aus den Augen. Berittene Polizei kennt Erich aus Wien, er erinnert sich, wie die Linken 1933 zu Tausenden zu einem sogenannten Massenspaziergang auf die Ringstraße strömten, wo die Regierung Militär aufmarschieren ließ und Maschinengewehre aufgestellt hatte. Furchterregend waren die hoch zu Ross sitzenden Polizisten, die ihre Säbel zogen und damit Fahnen und Transparente zerfetzten. Diese hier sind harmlos, das sieht man gleich, die ganze Szenerie kommt Erich vor wie in einem Wildwestfilm.
Mühsam formieren sich die Internierten für den Abmarsch zu Viererreihen. Angeführt und flankiert von Soldaten, machen sie sich auf einer breiten, sandigen Straße auf den Weg. Wohin? Niemand fragt. Die Trostlosigkeit der Landschaft, in der sie abgeladen wurden, lässt die meisten verstummen. Eine einförmige, farblose Ebene ohne Struktur, nur hie und da ragen die Äste abgestorbener Eukalyptusbäume in den blauen Himmel. Abgesehen vom Getrappel der Pferde und dem Gemurmel vereinzelter Gespräche lastet eine unheimliche Stille über den Verbannten. So fühlt es sich an, wie eine Verbannung, ein australisches Sibirien.
Nach einiger Zeit kommen ihnen Menschen entgegen, Kinder mit struppigen, von der Sonne gebleichten Haaren und ausgedörrte Erwachsene in schlichter Kleidung wollen die Fremden in Augenschein nehmen. Abgerissene Gestalten, die von weit her übers Meer zur Verwahrung in ihr ereignisloses Städtchen gebracht werden. Gefährliche Männer aus Europa, wo Krieg ist, und deren Armeen das Mutterland England mit Bomben überziehen. Also haben sie nur argwöhnische Blicke und keine gastfreundliche Begrüßung für die Ankömmlinge übrig. Nur die Kinder schauen neugierig, eine so große Menschenansammlung haben sie noch nie erlebt. Geschäftig umkreisen die berittenen Soldaten die Internierten wie Schäferhunde ihre Herde.
In der Ferne ein vertrauter Anblick: Stacheldrahtzaun und Wachtürme. Ratlos starren die Männer auf die schattenlose Einfriedung, die mit jedem Schritt näher rückt. Hier ist also Endstation. Flucht sinnlos. Jede Hoffnung, in Australien doch noch freizukommen, verfliegt.
Lastwagen rattern vorbei und hinterlassen eine Staubwolke.
«Unsere Koffer!»
«Was für eine Überraschung! Koffer gibt’s auch noch.»
«Da bin ich aber gespannt, was Scott uns gelassen hat.»
Dann das Lagertor. Alles nagelneu. Der etwa zwei Meter hohe dreifache Stacheldraht blitzt in der Sonne, das Holz, aus
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