Königskinder (German Edition)
Danach aber war Schluss. Koestler haben sie in Frankreich in Le Vernet interniert. Er hat die englische Haftanstalt Pentonville, in der er nach seiner Flucht nach England eingesperrt war, als Drei-Sterne-Knast bezeichnet. Nur damit uns klar wird, wie privilegiert wir letztlich sind. Auch hier in ‹Heu›.»
«Und wie komme ich hier in Heu an ‹Darkness at Noon› ?»
«Tja, gute Frage.»
«Riechst du was?»
«Essen!»
«Stimmt. Ich hab einen Bärenhunger.»
Doch dann erschallt aus den Lautsprechern der Befehl, sich zum Zählappell auf dem Appellplatz einzufinden. Es dauert lange, ehe es dem bunten Haufen undisziplinierter Zivilisten gelingt, sich in Reih und Glied aufzustellen. Nach dem dritten Anlauf ist die Zählung geschafft, und der stramme Sergeant mit dem Paradestöckchen unter dem linken Arm kann dem Camp Sergeant Major Sealdwell Meldung erstatten. Dann wird ihnen mitgeteilt, dass sie innerhalb des Stacheldrahts völlige Freiheit genießen, was die Internierten kichern lässt. Sealdwell ist ein auf Haltung bedachter Mann mittleren Alters mit einer schneidenden Militärstimme, dessen helle Augen die Männer aus Europa jedoch mit wachem Interesse beobachten.
Nach dem Wegtreten-Befehl werden Teller, Messer, Gabeln und Löffel verteilt. Ein Seufzer der Erleichterung geht durch die Reihen. Essen! Einige Köche, überwiegend aus Wien, haben sich gleich nach der Ankunft in den beiden Küchenhäusern zur rechten und linken Seite des sandigen Appellplatzes umgesehen, für brauchbar befunden, was sie da vorfanden, und sich voller Tatendrang an die Arbeit gemacht. In einer der Küchen haben die orthodoxen Juden, auch sie überwiegend aus Wien, einen Teil für sich abgetrennt. Dort wird koscher gekocht, und kein Unreiner darf ihre Töpfe und Pfannen anfassen. Anfangs ernähren sie sich nur vegetarisch, aber bald wird einem sachkundigen Rabbiner erlaubt, unter Aufsicht eine Schlachterei in Hay aufzusuchen, um die Schlachtung von Schafen im Einklang mit den religiösen Vorschriften zu überwachen.
Die Männer nehmen in der Essensbaracke auf Bänken an langen Holztischen Platz und verschlingen mit Genuss ein Kalbsgulasch, das erste wohlschmeckende Essen seit Monaten, von den Käse-Schinken-Sandwiches im Zug einmal abgesehen. Es ist sehr heiß. Die mit Fliegengitter verhängten Lüftungsschlitze zwischen Dach und Seitenwänden sorgen kaum für Luftzufuhr. Und das Fliegengitter ist vollkommen unbrauchbar, in Schwärmen fallen die fetten schwarzen Fliegen über die Teller und schwitzenden Körper her. Wedeln hilft nicht, die Fliegen kriechen in Nase und Ohren.
Ein Militärlaster hat Kleidung ins Lager gebracht. Burgunderrot eingefärbte alte Uniformjacken, Hosen, Soldatenmäntel und auch etliche Paar Stiefel stapeln sich bis unter die Plane. Wer ein Kleidungsstück braucht, bekommt eins, wenn auch nicht immer in der erforderlichen Größe. Nach der Anprobe wird reihum getäuschelt, bis jeder halbwegs passend eingekleidet ist. Zudem gibt es ausreichend Schneider und Schuster, wobei noch nicht klar ist, wie in dieser Einöde Arbeitswerkzeug zu beschaffen sein wird.
Aus den Lautsprechern ertönt der Last Post , der von einem Hornisten gespielte Zapfenstreich. Sein einsamer Klageton breitet sich in die unendliche Ebene hinter dem Stacheldraht aus. Jenseits des gleißenden Flutlichts ist eine schwarze, sternengesprenkelte Nacht zu erkennen, wie bei Erichs Großeltern in Windischgarsten. Die Mondsichel hängt verkehrt, die Sterne bilden fremde Figuren; der Amateurastronom ist begeistert. Die Nacht ist empfindlich kalt. Die beiden Decken sind dringend nötig.
Erich versucht zu schlafen, immerhin teilt er die Nacht nur noch mit siebenundzwanzig Männern. Otto ist in der Nähe, die beiden Baswitz-Brüder, die er noch aus Wien kennt, er ist nicht allein, und der Boden unter seiner Matratze schaukelt nicht mehr. Er ist in Australien angekommen. Hier wird er lange bleiben. Es beunruhigt ihn nicht, er spürt vielmehr eine innere Ruhe, ein sattes Gefühl. Wenn nur Irka bald nachkommt. Dabei weiß er nicht einmal, ob er sich diesen Wunsch gestatten sollte. Die Überfahrt ist gefährlich. Aber auch in London ist es gefährlich. Entweder kommt die Gefahr von unten oder von oben. Arme kleine Irka. Die Männer schnarchen, jeder anders. Ein Seufzen. Ein Pfeifen. Einer schnappt nach Luft, sein Atem setzt aus. Ein Furz. Ein Wimmern. Das muss der sein, der in Dachau war. Oder der, der von den Nazis in Abwesenheit zum Tod verurteilt
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