Königskinder (German Edition)
interessiert. Aber nun, ausgesetzt in dieses Männeruniversum und angeregt durch den Anblick von Max, der von Tag zu Tag gelöster und glücklicher aussieht, kann er seine Augen und Ohren nicht mehr von der Hütte lassen. Das Lager mit seinen tausend Männern ist seine Welt geworden, die einzige, die es noch gibt. Else ist weit, verloren im Nebel der Erinnerung. Was treibt sie dort in Wien? Vielleicht ist sie in den Fängen der Folterknechte am Morzinplatz. Vielleicht lebt sie nicht mehr. Wie lebt es sich im Untergrund? Sie hat keine Adresse. Auch wenn er wüsste, wo sie sich befindet, könnte er ihr nicht schreiben. Wie viele Jahre werden vergehen, ehe er etwas von ihr hört?
Otto schaut hinaus auf die Wüste und kann sich das Leben in Wien nicht mehr vorstellen. Nicht einmal die Freiheit kann er sich vorstellen. Die Freiheit breitet sich hinter dem Stacheldraht aus. Die Wüste verspricht alles, wenn man davon träumt, immer in Richtung Horizont zu gehen, und nichts, wenn man sie realistisch betrachtet. Dort draußen in der Einöde bist du nichts, für die Lebewesen in der Wüste bist du nicht einmal als Beute interessant, es gibt keine Raubtiere in Australien. Ohne Wasser bist du innerhalb weniger Tage tot. Sicher bist du nur hinter dem Zaun, bei den tausend Männern, die das Schicksal der Unfreiheit teilen und sich doch so sehr voneinander unterscheiden. Die alles daransetzen, sich zu unterscheiden. Jeder von ihnen möchte einmalig sein. Jeder tut etwas, um sich selbst und den anderen zu beweisen, dass er es ist. Sie unterrichten und halten Vorträge und schnitzen Figuren und proben mit ihren Chören und basteln Schuhe aus Autoreifen und schreiben Gedichte und plustern sich auf mit ihrem Wissen und ihrer Vergangenheit, nur um nicht unterzugehen in der Einförmigkeit der Wüste und der gesichtslosen Hütten. Draußen in der Welt werden Millionen gefoltert und ermordet, während sie im Sand hocken und sich Tätigkeiten ausdenken gegen die Langeweile. Sie spielen Karten und Schach, musizieren, zeichnen, deklamieren, reden von Sex und Weibern, befummeln ihre ausgehungerten Körper und planen eine sozialistische Welt.
Um die Zeit totzuschlagen, bringt Otto einigen Internierten bei, Holzschnitte anzufertigen, eine Technik, für die man bloß einen Holzblock, ein paar einfache Werkzeuge und schwarze Schuhpasta braucht. Manchmal setzt sich Jakob zu ihnen. Aber meistens hat er anderes zu tun. Der Kunsttischler hat sich in den Kopf gesetzt, aus Eukalyptusholz eine Geige zu bauen. Erste Erfahrungen mit dem fremden Holz hat er beim Bau eines Bücherregals gemacht. Es ist hart und trocken und wird leicht rissig, ähnlich wie Kastanie.
«Sicher nicht das ideale Holz für eine Geige, aber hier muss man sich nach der Decke strecken», weiht er Otto in seine Pläne ein. «Mit ein wenig gutem Willen und Glück kann ich aus meinem Eukalyptusholz Boden, Seiten, Hals und Schnecke bauen.»
Was ihm bisher noch fehlt, ist das Holz für die Decke, das biegsamer sein muss als Eukalyptus, es muss vibrieren können. Eines Tages kommt er strahlend in Ottos Holzschnittgruppe, in den Armen ein Stück Holz, das er in der Nähe des Krankenhauses gefunden hat.
«Was ist das für ein Holz?», fragt Otto.
«Keine Ahnung, vielleicht wird mich ein australischer Tischler eines Tages aufklären. Aber ich glaube, damit könnte es klappen.»
Von da an ist Jakob nicht mehr ansprechbar.
«Ist das nicht phantastisch?», sagt Erich, als er abends bei seinem Rundgang mit Otto an Jakob vorüberschlendert, der fieberhaft gegen das letzte Licht des Tages anarbeitet. «Ich beneide ihn. Außer lesen habe ich kein Hobby. Während du zeichnest und Ray Martin komponiert und Jakob schnitzt und die Burschen ihre Lieder schmettern, sitze ich in der canteen und schreibe Bestellungen in Blockbuchstaben. Die Bücher, die ich bei Angus & Robertson in Sydney bestelle, sind noch das Interessanteste. Die Listen werden immer länger. Wenn nicht alle ihre Bücher privatisieren, werden wir bald eine ansehnliche Bibliothek beisammenhaben. Besonders beliebt sind David Lows Comics ‹Europe since Versailles›, neulich habe ich achtzehn Stück davon bestellt. Ansonsten biete ich in Schönschrift unsere neuesten Angebote feil: Flanellpyjamas zehn Shilling Sixpence, Schlafröcke siebzehn Shilling, Unterhemden ein Shilling sieben Pence, Pullover fünfzehn Shilling, Socken zwei Shilling Twopence. Wenn das keine kreative Tätigkeit ist! Auch Irka schreibe ich, so schön ich kann,
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