Königskinder (German Edition)
Sorgen um meine finanzielle Lage. Ich hatte noch ungefähr 20 Pfund, und seit drei Wochen arbeite ich und bekomme wie immer 1 Pfund die Woche. Zu Deinem Geburtstag habe ich Dir ein Telegramm geschickt, und ich werde Dir noch eins schicken, denn ich weiß, wie wichtig das in dieser schrecklichen Zeit ist. Wenn wir wieder zusammen sind, will ich Dir viele Geschichten erzählen über die großartige Haltung der Engländer.
Wie gut, dass meine Schwester Dir schreibt. Ja, Ludka führt ein friedliches Leben. Beneidenswert. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie satt ich mein abenteuerliches Dasein habe, mein Liebster. Ich wurde in den Krieg hineingeboren, und danach wurde es auch nicht besser: Revolution, rassische und politische Verfolgung, Verlust des Heims, erzwungene Auswanderung. Und nun ist wieder Krieg mit all seinem Grauen. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir das alles überlebt haben!
Es ist lächerlich, Fragen zu stellen, wenn man sechs Monate auf eine Antwort warten muss. Da wartet man so lange, so schrecklich lange auf einen Brief, und dann enthält er so wenig. Ich möchte so vieles über Dein Leben erfahren oder es wenigstens zwischen den Zeilen erahnen. Bitte antworte: Hast Du mein Paket erhalten, das ich Dir nach Huyton geschickt habe? Kommen meine Briefe an, die ich fast jede Woche schreibe? Hast Du das Geld bekommen? Schreib mir doch, wie Du dort lebst. Kannst Du Dich ordentlich waschen? Musst Du eine Uniform tragen? Hast Du Zeitungen, Bücher oder irgendeine Arbeit? Sag mir bitte die Wahrheit, das dürfen wir in diesem Land. Du kannst Dir vorstellen, dass mich das alles interessiert. Geht es Dir gut? Hast Du abgenommen? Ich habe gestern mein erstes graues Haar entdeckt und es voller Sorge ausgerissen. Ich möchte noch nicht alt sein. Hoffentlich werde ich mich nicht zu sehr verändert haben, wenn wir uns wiedersehen. Das hängt natürlich davon ab, wie lang dieser Krieg dauert. Er bietet eine hervorragende Grundlage für das Wachstum grauer Haare.
Liebster, ich muss jetzt aufhören, weil ich Puppi und Dora Mütz schreiben muss. Meine freie Zeit ist immer zu kurz. Ich schicke Dir all meine Liebe und ganz viele Küsse über den Ozean. Kopf hoch, mein Junge, wir haben hier schlimmere Zeiten als Du und schaffen es trotzdem, manchmal drüber zu lachen. Ich glaube aber nicht, dass die menschliche Natur fähig ist, sich an derart grässliche Lebensumstände zu gewöhnen. Wir haben darüber während des spanischen Bürgerkriegs gelesen. Jetzt verstehen wir. Aber mach Dir keine Sorgen, Hitler hat mich in Wien nicht erwischt, es wird ihm auch hier nicht gelingen. Vielleicht kann ich ja zu Dir kommen, wenn die Überfahrten im Frühjahr leichter sind.
Deine Irka
St. Albans, 9. Dezember 1940
Mein liebster Eri, am Sonntag bin ich spazieren gegangen, es war ein sonniger Winternachmittag. St. Albans ist eine reizende Kleinstadt, die von den Römern gegründet wurde. Die größte Attraktion ist die uralte Abtei, sie soll die längste Kathedrale der Welt sein. Sie ist umgeben von schönen alten Gassen, und durch gotische Torbögen blickt man auf eine verträumte, blasse englische Landschaft. Es war schön, doch Du warst nicht bei mir, ich war allein an diesem Sonntag, wo jeder in Gesellschaft ist. Hier werden nun viele Internierte aus den Lagern entlassen, wenn sie beweisen können, dass sie für die Freiheit und gegen Hitler gekämpft haben. Schon viele unserer Bekannten sind heimgekehrt.
Neben meinem Bett steht Dein Bild, auf dem Du lachend und glücklich vor der steilen Raxwand sitzt. Werden wir wieder einmal in den Bergen wandern? Wenn ich am Mittwoch ausgehe, sende ich Dir ein Weihnachtstelegramm, das ist derzeit wohl das schönste Geschenk. Nächstens bekommst Du auch Geld. Kauf Dir Zigaretten. Du sollst nicht arm dastehen neben den anderen, die mehr haben. Ich höre, dass Ihr schreiben dürft. Ich müsste eigentlich schon viel mehr Briefe von Dir haben. Bitte schreib, ich warte so sehr darauf.
Deine Irka
Dort, wo Erich sich aufhält, wird zum Jahreswechsel eine Varieté-Show aufgeführt, die für viel Gelächter, Fröhlichkeit und Optimismus sorgt. Die Stimmung steigt mit der Menge des konsumierten Lagerweins. Für Mitternacht hat das Organisationskomitee ein Lagerfeuer auf dem Appellplatz geplant, das jedoch wegen der Gefahr eines Buschfeuers in letzter Minute verboten wird. Der erste Tag des neuen Jahres ist Feiertag, ohne Zählappell und Lagerinspektion.
Am anderen Ende der Welt erhält Irka eine
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