Königskinder
ernsthaft erwartet, er würde ihr sein Verhalten und seine Gefühle erklären, dann muss es verrückt sein. Das hatte ich sogar schon damals, im zarten Alter von zehn Jahren, geahnt. In der WG meines Vaters lag auf dem Klo ein Riesenstapel Comics, hauptsächlich Lustige Taschenbücher von Donald Duck. Alabama Karl las gern Geschichten aus Entenhausen, während er ein Ei legte. Da konnte ich doch nicht ernsthaft erwarten, dass er mir einen komplexen emotionalen Vorgang plausibel machen würde. Männer leben doch alle irgendwie in ihrem eigenen Entenhausen.
Nachdem die Bombe der Vaterschaft geplatzt war, erfuhr ich auch etwas über den spärlichen Verwandtschafts-Rest. Und wieso meine Mutter trotz relativ schlechter Teeladen-Geschäfte finanziell einigermaßen gut über die Runden kam. Das hatte sie Alabama Karls Eltern zu verdanken. Die lebten nicht in Enten-, sondern in Wolfratshausen. Dort hatten sie eine gut laufende Fabrik für Wurstwaren. Klümpzer Wurstwaren – Mmmmh, das ist lecker!, stand auf den Packungen. Hab ich im Supermarkt gesehen. Mein Vater hieß also in Wirklichkeit Karl Klümpzer! Aua.
Jedenfalls waren meine Großeltern (die ich nie kennenlernte, weil sie nie von mir erfuhren, da sie, ich zitiere meinen Vater, »alte Scheiß-Nazis« waren) total reich. Sie ließen ihrem missratenen, musikalischen Sohn eine monatliche Unterstützung von dreitausend Mark zukommen. Eintausend davon schickte er seit meiner Geburt immer an meine Mutter, jeden Monat, ohne auch nur einen davon auszulassen. »Es ist das einzig Zuverlässige, was er je zustande gebracht hat«, sagte meine Mutter. Aber es klang nicht vorwurfsvoll. Sie hatte sich damit arrangiert, dass der Mann, den sie liebte, nicht die Verantwortung und Beständigkeit aufbrachte, die nötig ist, um ein gemeinsames Glück zu bewerkstelligen. Alabama Karl war Treibgut, und meine Mutter war die Boje, an die er manchmal anstieß. Er meinte es nicht böse; er war einfach so. Ich glaube aber, dass mein Vater mich sehr geliebt hat. Das Maß an Aufmerksamkeit, Zeit und Fürsorge, das er mir angedeihen ließ, war für seine Verhältnisse riesig. Seine Verhältnisse entsprachen eben nur nicht der allgemeinen Norm.
Ich sehe es so: Lieber von Treibgut geliebt werden, als von einem Supermann ignoriert.
Kapitel 7
1985
E s war Liebe auf den ersten Blick! Sie war so schön! Absolut perfekt, diese Kurven, dieser Schwung … Sie war etwas ganz Besonderes, und sie sollte mein Leben verändern!
Ich stand vor der Sagrada-Família-Kirche in Barcelona, den Mund offen vor Staunen, das Herz wild und heftig pochend vor Begeisterung. Was für ein Anblick!
Ich hatte mich vorher nie für Architektur interessiert. Doch an diesem Tag, als ich mit meinen Klassenkameraden der Rudolf-Mößbauer-Schule vor diesem absolut einzigartigen, sinnlichen und in seiner Verwegenheit schlichtweg atemberaubenden Bau stand, wusste ich, was ich werden wollte: Architekt! Ich wollte Häuser bauen! Einzigartige Häuser!
Ich war natürlich schon damals Realist. Ich wusste selbstverständlich, dass ich kein neuer Gaudí werden würde. Dass ich weder solch ein Genie war wie dieser legendäre Baumeister, noch so tollkühn in meiner Gesinnung. Und dass mich auch niemand je dafür bezahlen würde, eine Kirche zu konzipieren, die alle bis dato herrschenden Regeln der Baukunst auf den Kopf stellte.
Aber ich würde Häuser entwerfen, die mehr sein würden als bloß funktionale Klötze. Häuser, die die Menschen, die darin lebten, ein wenig glücklicher machten!
Die meisten meiner Mitschüler teilten meine Begeisterung für die Sagrada Família nicht. Sie musterten den Prachtbau nur kurz und wandten sich dann den ihrer Meinung nach wichtigeren Dingen zu: Dem Eis-Stand auf der anderen Straßenseite und dem Jeans-Shop am Ende des Platzes. Jeans waren damals wahnsinnig billig in Spanien, und die Mädchen aus meiner Klasse kauften sie stapelweise. In diesem Punkt unterscheiden sich junge Genies nicht von ganz normalen Teenagern.
Ich war kein großer Freund von Klassenreisen. Obwohl die Reisen, die wir Mösenkauer machten, schon von einem anderen Kaliber waren als die, von denen Hassan erzählte. Wir waren zwei Jahre zuvor in Paris gewesen, wo wir einen wahren Museums-Marathon hingelegt hatten; die Architektur der französischen Hauptstadt hatte mich da aber unerklärlicherweise noch nicht begeistert. Vielleicht muss man erst ein gewisses Alter erreichen, bevor man artifizielle Ästhetik zu würdigen weiß?
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