Königskinder
Handlungsmechanismen von angsterfüllten Menschenmassen gelesen. Es gibt tatsächlich ganz klare mathematische Regeln, nach denen Menschen in Todesangst reagieren. Auf einem freien Feld könnte ein entsprechend geschulter Mathematiker exakt vorhersagen, wohin, in welcher Dichte, mit welchem Tempo und nach welchem Schema die Menschen lospreschen würden, sobald sie in Panik gerieten. Das Problem der Demonstranten, die ich in Costa Rica vom Fenster aus beobachtete, bestand jedoch darin, dass sie sich in einer Art Kessel befanden. Sie konnten nirgendwohin fliehen, zumindest nicht, ohne eine Schneise in die Kette von Ordnungshütern zu schlagen, die sie umringten. Andererseits ist es Menschen in Panik nur als Individuum möglich, still und starr zu verharren. In einer Gruppe gibt es einen Bewegungsautomatismus, der nahezu alle Mitglieder zwangsläufig erfasst. Ergo: Die Krötenfreunde vor unserem Haus konnten nirgendwohin laufen, sie konnten aber auch nicht stehen bleiben. Womit wir bei der Chaostheorie ankamen.
Alle rasten auf dem winzigen ihnen zur Verfügung stehenden Terrain wie verrückt hin und her. Die Menschen schrien, brüllten, kreischten, wurden von der Wand der uniformierten Männer zurückgeprügelt, rannten nun in die andere Richtung, stießen mit Leuten zusammen, die ihrerseits gerade die Richtung gewechselt hatten.
Und dann sah ich mittendrin in diesem brutalen Gewusel plötzlich einen Körper auf dem Boden kauern!
Es war eine Frau. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Ich sah nur ihren Rücken, ihre Beine und ihre Arme, die sie schützend über den Kopf hielt. Sie trug ein leichtes Sommerkleid. Ihre Haut war hell. Und dann sah ich das Blut, das zwischen den Fingern ihrer Hände durchsickerte. Ich war entsetzt! Da war ein Mensch ernsthaft in Gefahr!
»Hilfe!«, schrie ich von meinem Beobachtungsposten im ersten Stock aus in den Garten hinunter.
Walter, Dr. Winter und die obskuren Männer mit den Sonnenbrillen, die zur CIA, zu einer internationalen Bank, einem privaten Sicherheitsdienst oder einem multinationalen Tourismuskonzern gehört haben mögen, schauten tatsächlich zu mir hoch.
»Da ist eine Frau!«, rief ich. »Sie ist verletzt! Sie braucht Hilfe!«
Das komplette Desinteresse, das mir von der Männern aus dem Garten entgegenschlug, war schockierend.
»Die trampeln sie tot!«, schrie ich. »Unternehmt doch etwas!« Dann fiel mir ein, dass außer Walter und Dr. Winter vermutlich niemand in der Gruppe deutsch sprach.
»Help! Do something!«, schrie ich also. »A woman is in danger!«
» Die Polizei weiß schon, was sie tut«, rief Walter zurück.
»There’s a woman! Out there!«, brüllte ich weiter. »She needs our help! Die trampeln sie tot! Tut doch etwas! Ihr könnt doch einfach nicht so dastehen!«
»Don’t worry!«, rief einer der Sonnenbrillenmänner. »You are safe here.«
Sie verstanden gar nichts!
Ich schaute wieder auf das Chaos hinunter und bemerkte, dass die Uniformierten den Kessel an einer Stelle geöffnet hatten, die Demonstranten an diesem Nadelöhr einzeln herauspickten, verhafteten und direkt in Laster verfrachteten. Und ich sah, dass zwei Männer, von denen einer auffallend dick war, die Frau in dem dünnen Sommerkleid vom Boden aufgehoben hatten und nun zu den Polizisten trugen. Sie schien besinnungslos zu sein, denn sie hing wie ein nasser Sack zwischen ihren beiden Rettern. Zumindest hoffte ich, dass sie nur besinnungslos war und nicht tot.
Ich schaute wieder in den Garten hinunter. Mein Beinahe-Schwiegervater machte gerade eine Geste in Richtung Terrasse. Er lächelte. Wahrscheinlich wollte er seinen »Gästen« etwas zu trinken anbieten.
*
Ich erwachte in einem Krankenhaus. Eine Schwester fragte mich nach meinem Namen. Sie sprach spanisch. Ich verstand sie trotzdem, denn die Vorstellungsrituale waren in »Spanisch für Dummies« bereits auf den ersten Seiten abgefeiert worden. Ich sagte ihr, wie ich hieß; sie erklärte mir mit Händen und Füßen, dass ich mir keine Sorgen machen solle und sie nun den Arzt holen würde. Dann fielen meine Augen wieder zu.
Als ich das nächste Mal erwachte, erklärte mir eine andere Krankenschwester – diesmal auf Englisch –, dass ich eine Gehirnerschütterung hätte und Prellungen an den Rippen. Nichts Schlimmes. Ich bräuchte nur Ruhe.
Als ich wieder die Augen aufschlug, war da ein Polizist. Er sagte etwas auf Spanisch, was ich nicht verstand. Ich antwortete: »Hä?« Er wiederholte, was er gesagt hatte. Ich
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