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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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trat.
    »Jetzt nicht!«, rief Walter und wedelte mich mit der Hand weg, als wäre ich ein lästiges Insekt. Er schaute mich nicht einmal richtig dabei an. Stattdessen wandte er sich wieder Dr. Winter zu und redete auf ihn ein.
    »Der Pöbel muss da weg!«, hörte ich ihn sagen. »Ich lasse mich nicht als Gefangenen in meinem eigenen Haus halten!« Walter hielt die Villa, in der er nur zu Gast war, offenbar bereits für sein Eigentum.
    Jetzt hörte ich, wie die Sprechchöre plötzlich abrupt erstarben und durch kurze erschrockene und erstaunte Ausrufe ersetzt wurden. Kurz darauf hörte ich lautes Motorengedröhne.
    »Was ist denn los, um Himmels willen?«, rief ich, jetzt deutlich lauter und nachdrücklicher. Doch trotzdem kümmerte sich niemand um mich.
    Ich eilte also zurück ins Haus, lief die weite, geschwungene Marmortreppe hoch in den ersten Stock, stürmte dort in eines der Schlafzimmer und vor bis zur Fensterfront. Von hier aus konnte ich über die Mauer sehen.
    Und ich sah alles.
    Vor der Villa hatten sich, wie ich vermutet hatte, rund hundert Demonstranten versammelt. Womit ich nicht gerechnet hatte, war das massive Polizeiaufgebot, von dem die Umweltschützer umzingelt waren, die Jeeps, die Gewehre – und der Panzer, der am Ende der Straße auftauchte!
    *
    Die ganze Sache lief völlig aus dem Ruder. Am Anfang hatten wir noch ganz normal demonstriert. Wir hatten uns vor der obszön prachtvollen Villa der Geldgeier und Immobilienhaie versammelt und friedfertig unseren Protest kundgetan. Es war uns sogar gelungen, ein Kamerateam der BBC zu überreden, unsere Aktion zu filmen, obwohl gefährdete Schildkröten nicht gerade zu den Top-Nachrichten dieser Welt zählten.
    Wir waren nicht naiv. Wir waren uns durchaus bewusst, dass die Polizei unsere Demonstration irgendwann auflösen würde. Und dass sie wohl nicht allzu zimperlich dabei vorgehen würde. Womit wir aber nicht gerechnet hatten, war das Tempo, in dem die Ordnungshüter auftauchten. Und die Wucht, mit der sie ihre Macht demonstrierten. Maschinengewehre und sogar ein Panzer? Das durfte doch nicht wahr sein!
    Ich wurde unsagbar wütend. »Ihr Schweine!«, schrie ich los. »Ihr verdammten, verschissenen Schweine!«
    Ich schrie so laut, dass tatsächlich jedes andere Geräusch um mich herum erstarb. Für einen winzigen, dramatischen Moment war ich die Johanna von Orleans der costa-ricanischen Lederschildkröte.
    »Fickt euch, ihr Kapitalistenknechte!«, schrie ich in einem irrationalen Adrenalinrausch. Ich riss die Arme hoch und schrie, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte.
    Dann fiel ein Schuss.
    Und sofort brach die Hölle los.
    Nachträglich war nicht festzustellen, wer da geschossen hatte. Ob es ein Warnschuss in die Luft gewesen war, ein versehentlich gelöster Schuss oder bloß ein Geräusch, das wie ein Schuss klang. Auf jeden Fall kam es zu einer Panik. Die Demonstranten rannten los, jeder allerdings in eine andere Richtung, da wir ja komplett von Polizisten und Paramilitärs eingekreist waren. Ich wurde dabei von einem ungemein brockigen Mann, der sehr gut mit den Frauen, die mich auf meinem Flug hierher in die Quetschmangel genommen hatten, verwandt gewesen sein könnte, umgestoßen. Ich fiel zu Boden und schaffte es nicht, mich wieder aufzurappeln. Um mich herum trampelten unzählige Füße. Ich hörte Schreie und obskure Geräusche, die wie Schläge klangen. Und dann trampelten noch mehr Füße noch heftiger haarscharf an meinem Kopf vorbei. Ein Fuß traf mich an der Stirn. Irgendjemand trat mich mit voller Wucht in die Seite. Sicher ein Versehen, doch es schmerzte trotzdem unsagbar. Ich hielt beide Hände schützend über meinen Kopf und schloss die Augen. Ich erinnere mich noch, dass ich leise »Mama« wimmerte und mich trotz aller Angst und Verzweiflung gleichzeitig darüber wunderte, dass ich das tat. Warum wollte ich meine Mutter hierhaben? Ich hatte sie niemals auch nur ansatzweise für eine Beschützerin gehalten. Ganz im Gegenteil. Und doch war »Mama« das letzte Wort, das ich wimmerte, bevor alles schwarz wurde und ich die Besinnung verlor.
    *
    Plötzlich fiel ein Schuss! Zumindest glaube ich, dass es ein Schuss war. Irgendetwas knallte jedenfalls, und unverzüglich brach eine Panik aus.
    Ich habe während meines Studiums, als ich mich mit dem Thema Fluchtwege in öffentlichen Gebäuden beschäftigte, die Psychologie der Panik zu begreifen versucht und während meiner Recherche eine interessante Abhandlung über die

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