Königskinder
mit der grob getöpferten mongolischen Teekanne herumhantierte, die zwar an einer Stelle schon etwas porös war und entsprechend leckte, aber nun mal ihre Lieblings-Teekanne war und deshalb in Betrieb bleiben würde, bis sie zu Staub zerfiel. Ich drehte das Radio leiser, in dem gerade Madonna »Don’t cry for me, Argentina« flehte, und wiederholte, was ich eben in der Zeitung gelesen hatte: »Die haben in einem Gen-Labor in Schottland ein Schaf geklont! Die haben ein Retorten-Säugetier erschaffen!«
»Tsts«, schüttelte meine Mutter mit halbherziger Missbilligung den Kopf. »So was aber auch. Möchtest du ein bisschen arabisches Sternegewürz in deinen Tee?«
Ich musste lachen. Wenn man bedachte, dass meine Mutter angesichts gentechnisch manipulierter blauer Rosen vor ein paar Jahren noch in Tränen ausgebrochen war, nahm sie die ungleich schockierendere Nachricht von Dolly, dem Laborschaf, mit grotesker Leichtigkeit auf. Aber meine Mutter war nicht mehr aus der Ruhe zu bringen. Sie ruhte völlig in sich selbst, seit sie mit Alabama Karl verheiratet war. Seit er sich zu ihr bekannt und sie in sein Leben gelassen hatte.
Diese Ehe, der ich ehrlich gesagt anfangs keine besonders große Überlebenschance gegeben hatte, funktionierte tadellos. Aus meinem unsteten, nahezu lebensuntüchtigen Vater hatte das Zusammenleben mit meiner Mutter einen ausgeglichenen und durchaus patenten Mann gemacht. Bei meiner Mutter waren dagegen über zwanzig Kilo Lebendgewicht einfach so abgefallen. Ebenso wie das Gros der Traurigkeit, die sie früher so oft in den Würgegriff genommen hatte.
Ich fragte mich, ob ich auch irgendwann einmal den Mann finden würde, der mich zu einem ganzen Menschen machen könnte. Der mir die Unruhe nahm, den Schleier der Ratlosigkeit und Unzufriedenheit und latenten Melancholie, der mich hartnäckig umwehte, von mir zog.
Aber war das überhaupt des Rätsels Lösung: ein Mann? War das nicht eine entsetzlich unfeministische, kitschig verklärte Sicht der Dinge? Brauchte eine Frau denn tatsächlich zwangsläufig einen Mann, um das Leben genießen zu können? Blödsinn! So formuliert, war das eine furchterregende reaktionäre Theorie.
Anders ausgedrückt machte es schon mehr Sinn: Konnte ein Mensch das Leben erst dann in seiner Gänze erfassen, erleben und genießen, wenn er seine Gedanken und Gefühle mit einem anderen Menschen teilte? Erweckte erst die Verbindung aus zwei Menschen in jedem dieser beiden Menschen das völlige emotionale Potenzial? Vielleicht. Aber nur, wenn diese beiden Menschen sich wirklich ergänzten. Wenn das, was sie hatten, tatsächlich Liebe war. Echte Liebe. Wenn sie Seelenverwandte waren. Und da stellte sich die Frage: Gab es so etwas überhaupt?
Gab es irgendwo auf dieser Welt einen Seelenverwandten für mich?
Aber selbst wenn: Bei meinem Glück lebte mein Seelenverwandter als Ziegenhirt in Kirgisien und würde mir nie begegnen. Oder der Mann, der mein Leben verändern könnte, war einundneunzig Jahre alt und hing bereits am Tropf. Oder ich würde auf der Straße achtlos an dem für mich vorbestimmten Mann vorbeigehen und niemals erfahren, dass ich meinem Seelenverwandten an einem Punkt in meinem Leben schon einmal so nah gekommen war, dass ich bloß den Arm hätte auszustrecken brauchen. Und selbst wenn er mich frontal anrempeln würde: Woran sollte ich ihn überhaupt erkennen? Wäre da etwa ein Glanz in seinen Augen, ein Funkeln, das keine Fragen offenließ und es mir deutlich sagte: »Ich bin’s! Deine andere Hälfte!« Würde ich schlagartig wissen, dass ich in die Liebe hineingerannt war?
Nein, natürlich nicht! Auf solch einen verquasten Hollywood-Moment würde ich nicht warten. Ich brauchte keinen strahlenden Prinzen auf einem weißen Pferd. Ich würde mir ein eigenes Pferd erarbeiten und damit stolz und selbständig in mein Glück reiten. Ich würde …
»Wie kann man das Viech nur Dolly nennen«, unterbrach in diesem Moment Alabama Karl meinen kruden Gedankengang. Er war von mir unbemerkt in die Küche getreten. Und er war, wie üblich am Freitagmorgen, splitternackt. Karl war einfach nicht davon abzubringen, mindestens eine halbe Stunde lang seinen dürren, drahtigen Körper völlig unverhüllt durch die Wohnung zu bewegen, nachdem er geduscht hatte. Er war zwar inzwischen ein verheirateter Mann, aber er würde trotzdem immer ein Hippie bleiben. Textilfrei nahm er am Tisch Platz.
»Wieso?«, fragte meine Mutter und schenkte Alabama eine Tasse Tee ein. »Wie
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