Körper-Haft (German Edition)
und fieberte die ganze Woche auf das Wochenende hin. Egal, was auch immer passiert oder auch nicht passiert war. Ich fühlte mich gut bei dem Gedanken, dass ich endlich mal wieder aus mir raus konnte.
Es war erleichternd und befreiend zugleich. Ich, der alte Zweifler, war mir natürlich immer noch nicht sicher, ob dies alles passiert war oder nicht. Aber: Wenn das der Wahnsinn , das Hinüberschnappen war, dann fühlte es sich richtig gut an. Wenn der Wahnsinn ein schützender Mantel war, so kuschelte ich mich dankbar darin ein.
Es war besser als jedes Kehrwasser , in das ich mich bisher zurückgezogen hatte. Und das Beste daran war, es funktionierte praktisch immer, denn die Schmerzen in meinem Rücken und die Sehnsucht nach Tanja und ihren beruhigenden Händen waren immer in ausreichender Menge da.
Die letzten Tage hatte ich jeden Abend mein Mobil-Ich in mir geweckt, aber ich hatte immer noch Angst davor, das Zimmer zu verlassen. Inzwischen kannte ich unsere Gemeinschaftszelle aus nahezu jedem Blickwinkel in- und auswendig. Ich wusste, wie die Displays unserer Vitalometer aussahen, die Anschlüsse unter unseren Betten und wie der Blick aus dem Fenster aussah. Aber die Zelle blieb eine Zelle und konnte auch bei wohlwollender Betrachtung wirklich nur als hoch technisiertes, aber tristes Krankenzimmer durchgehen.
Da ich mich nicht aus dem Zimmer traute, verweilte ich oft auf der wunderschönen Wiese – in der Zwischenebene, wie ich sie nannte. Ich atmete sie ein, ich lief darauf herum und ich freute mich diebisch über dieses Paradies.
Meinen persönlichen Gott sah ich zwei-, dreimal aus der Ferne. Er winkte mir zu und verschwand danach wieder. Ganz schön durchgeknallt! Aber immer noch deutlich besser, als bewegungslos in dieser tristen Zelle zu liegen und im eigenen Saft dahinzuvegetieren.
Eines Tages kam Doktor Gregor bei der turnusmäßigen Visite herein und sagte: »Einen schönen guten Morgen, die Herren. Es gibt eine kleine verwaltungstechnische Änderung.«
Innerlich stöhnte ich auf. Verwaltungstechnische Änderungen hieß nichts anderes, als das irgendetwas schlechter werden würde. Das hatte ich in meinem bisherigen Leben schmerzhaft lernen müssen.
»Da sich Herr Professor Marquez auf einer Forschungsreise befindet, deren zeitliche Schiene auf … ach Blödsinn«, sagte er dann von sich selbst entnervt. »Also Fakt ist, Herr Professor Marquez ist auf nicht absehbare Zeit vereist. Er befindet sich irgendwo im Ausland. Mein letzter Stand ist, dass er sich in Brasilien aufhält. Dadurch entsteht eine Betreuungslücke für Sie alle. Diese Lücke wird ab heute jedoch mit mir gefüllt. Das heißt, ich trage von diesem Tag an die medizinische Verantwortung für das BSS-Projekt . In der Vergangenheit gab es einige aus meiner Sicht verbesserungswürdige Punkte, die ich nach und nach abarbeiten möchte und natürlich auch werde. Ein erster Punkt ist die Aufhebung der Anonymisierung . Auch wenn Sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben, haben Sie das Recht mit ihrem Namen angesprochen zu werden. Ich habe die Pfleger schon entsprechend angewiesen.«
»Außerdem sollen Sie auch wissen, mit wem Sie das Zimmer teilen. An der Fensterseite liegt Herr …«, er musste kurz auf seinem Blatt nachschauen.
» Neuner, Tobias Neuner «, dachte ich.
»… äh Herr Neuner «, ergänzte Doktor Gregor seinen angefangenen Satz. Kalt kribbelnd arbeitete sich eine Erkenntnis meine Wirbelsäule hoch.
In Gedanken ging ich die anderen Namen durch. Tom Deckart, Ahmed Öger und Sanjib Bhaghavatula . Mir stockte der Atem. Wie konnte ich all diese Namen kennen? War ich tatsächlich außerhalb meines Körpers gewesen und hatte die Namen auf den Vitalometern der anderen gelesen? Ich meinte mich zwar zu erinnern, dass der Name Öger schon einmal während seiner Katalepsie-Behandlung gefallen war. Aber die anderen? Ich spitzte die Ohren, um wirklich jeden Namen mitzubekommen.
»Dann kommen wir zum vierten vom Fenster aus gesehen. Bitte entschuldigen Sie schon jetzt, wenn mir ihr Name etwas holpernd über die Lippen kommt. Er ist für diesen Kulturkreis etwas außergewöhnlich. Herr Bha-gha-va-tu-la. «
Ich war wie vom Donner gerührt, als er die letzte Silbe ausgesprochen hatte. Bhaghavatula! Wie, um alles in der Welt, hätte ich auf solch einen Namen kommen sollen? Ich war mir sicher, dass ich ihn in diesem Raum noch nie gehört hatte. Mir fielen die Namensbeschriftungen auf den Vitalometern ein. Konnte das wirklich sein?
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