Körper-Haft (German Edition)
hinter Milchglas oder unter einer dicken Schicht Eis liegen – wie bei einem toten Fisch. Kälte durchströmte meinen Körper bei dem Gedanken und mein Magen rebellierte. Das Gesicht von Nr. 6 war bläulich blass und erschien irgendwie wächsern. Eine Beatmungsmaske wurde über seine Lippen und Nase gestülpt und – wie nach einem Filmschnitt – plötzlich drangen die Geräusche um mich herum, die vorher wie ausgeschaltet gewesen waren, wieder in meine eigene Wahrnehmung. Bild und Ton waren schlagartig wieder synchron!
»Los, schnell, …keine Ahnung, wie lange der schon keine Luft bekommt…«
»… verdammt noch mal, wo bleibt der Defibrillator! Schalten sie endlich das Bett auf Reanimationsmodus, damit die Matratze steif wird, sonst nützt die ganze Herzdruckmassage nichts und ich drücke nur die Matratze zusammen. Herr Becker, lösen Sie mich ab!«, keuchte Doktor Gregor, der sichtlich außer Atem immer noch das Herz von Nr. 6 massierte.
Brötchen stand einen Moment sichtlich unschlüssig da und schien nicht richtig zu wissen, wie er anpacken sollte. Es stimmte mich nicht gerade zuversichtlich, dass ein kräftiger, ausgebildeter Pfleger nicht wusste, was bei einem Herzstillstand zu tun war.
»Los, machen sie schon!«
Brötchen schien sich endlich einen Ruck zu geben und legte seine Hände übereinander oberhalb des Solarplexus auf. Brötchen holte tief Luft und drückte mit seinen schwieligen Fernfahrerhänden beherzt auf die Brust von Nr. 6 . »Krrruck!« Der trockene Ton – als würde man das Brustbein eines Hähnchens mit der Geflügelschere durchtrennen – ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Brötchen schien es genauso zu ergehen. Völlig schockiert stand er da!
Doktor Gregor, immer noch außer Atem, behielt die Übersicht: »Los, machen Sie weiter! Vielleicht haben Sie ihm ein paar Rippen oder das Sternum gebrochen, aber das ist jetzt nicht so wichtig! Hauptsache, sie reanimieren schön regelmäßig weiter. Die Knochen können wieder zusammenwachsen, wenn sein Herz wieder schlägt. Umgekehrt geht das leider nicht!«, keuchte er.
Ein anderer Pfleger kam mit dem Defibrillator hereingerannt. Dr Gregor prüfte die Spannung der Elektroden, Funken sprühten. »Zurück!«, schrie er und alle taten, wie ihnen geheißen – wer wollte schon mit 750 Volt konfrontiert werden …
… Nr. 6 hingegen hatte keine andere Wahl und bäumte sich auf. Brötchen fing wieder mit der Herzdruckmassage an.
Der Schweiß stand allen auf der Stirn und sie wechselten sich immer wieder gegenseitig ab, um nicht völlig außer Puste zu kommen.
Das ganze Prozedere wiederholte sich mehrere Male und die Mannschaft kämpfte volle zwanzig Minuten, bis sie ihn nach einer »gefühlten Woche« wieder hatten.
Doktor Gregor seufzte: »Das war ja eine großartige Behandlungsmethode, Professor Marquez!«
Brötchen sah ihn fragend an. Doktor Gregor bemerkte den Blick und sagte: »Gute Arbeit, Herr Becker, machen Sie sich keine Sorgen wegen der gebrochenen Rippen. So etwas kann vorkommen – Hauptsache, wir haben ihn! Bringen Sie ihn ins Notfallzimmer, wir sind noch nicht fertig, aber das Schlimmste haben wir zuerst einmal überstanden …«
Brötchen nickte ihm dankbar zu und fing an, das Bett von den Versorgungskabeln und Schläuchen zu lösen.
Die Schnellverschlüsse der Kabel und Schläuche klickten, die Bremsen wurden gelockert und das Bett zur offenen Tür hinausgeschoben. Die Tür blieb offen und ich konnte sie noch vom Gang her hören.
»Los schnell … es geht schon wieder los! Er hat schon wieder einen Aussetzer. Gerade war er noch stabil …«
»Schaltetet den Defi wieder an!«
Sensenmann
Ob er jemals wiederkommen würde? Oder sollte auch er eine, wie es Bruder Martin so treffend ausgedrückt hatte, Behandlung, die seiner speziellen gesundheitlichen Situation gerecht wird, bekommen? Also Waschen – Ölen – Tieferlegen!
Und wenn er nicht wiederkam, würde der Sensenmann in der gleichen Richtung weiterlaufen und seine Sense an meinem Bett schwingen? Zuerst Nr. 7 , jetzt Nr. 6 und als Nächstes ich, die Nr. 5?! Unwillkürlich rollten meine Augen soweit nach rechts, dass ich den Teil des Raumes überblicken konnte, wo die Betten von Nr. 6 und Nr. 7 noch vor Kurzem gestanden hatten.
Ich versuchte auszumachen, ob es dort vielleicht eine Bewegung oder einen Lufthauch gab. Einen wehenden schwarzen Umhang? Das Geräusch einer Sense, die gewetzt wird? Wenn mich der Tod schon ausgewählt hatte, dann wollte ich ihm
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