Kohärenz 02 - Hide*Out
ihn reingeschmuggelt.«
Dad hatte die Stirn in schwere Falten gelegt. »Ja. Stimmt. Da ist eine Erinnerung. Ganz schwach. So, wie man manchmal aus dem Haus geht und sich fragt, ob man den Herd ausgemacht hat. Man denkt, ja, aber ganz sicher ist man sich nicht.«
»Du hast den anderen Chip gewählt. Nicht den im Gestell. Sondern den defekten«, sagte Christopher und beobachtete die Augen seines Vaters. Nichts. »Du hattest eine Pinzette in der Hand. Du wolltest schon nach dem Chip in der Halterung greifen, aber dann ist deine Hand zur Seite gezuckt, im letzten Moment, und du hast den anderen Chip genommen.«
»Hmm.« Dad hob die Schultern. »Kann sein. Ich weiß es wirklich nicht mehr.«
»Du hast mir einen defekten Chip eingepflanzt«, sagte Christopher mit einem Gefühl tiefster Verzweiflung. »Einen, den ich kontrollieren konnte. Und ich dachte die ganze Zeit, du hast es absichtlich gemacht. Um mir eine Chance zu geben, wieder rauszukommen.«
Dad richtete sich auf, als müsse er eine Last abschütteln, gab einen unwilligen Laut von sich. »Absichtlich? Man handelt nicht absichtlich anders, wenn man Teil der Kohärenz ist. Das gibt es einfach nicht. Wenn ich – «
Er hielt inne, lauschte, als habe er irgendwo ein seltsames Geräusch gehört. »Warte. Ich erinnere mich an etwas.« Sein Blick ging ins Leere. »Ich halte einen Chip in der linken Hand und ein Messer in der rechten. Ich setze das Messer an den zwei äußersten Kontaktstellen an, mache einen schnellen, tiefen Schnitt und frage mich noch, wieso ich das tue. Weißt du, so, wie wenn man telefoniert und nebenher Männchen malt und sich wundert, was für Bilder dabei entstehen. Aber im nächsten Moment fährt mir das Messer in den Finger und der Schmerz wischt den Gedanken aus…« Er hob seine linke Hand, hielt Christopher den Zeigefinger hin.
Eine tiefe Narbe lief quer über die Kuppe. Verheilt, aber noch gut zu sehen.
»Du hast es unbewusst getan«, sagte Christopher. »An der Kohärenz vorbei. Trotz allem.«
»Es hat furchtbar geblutet«, meinte sein Vater und betrachtete versonnen seinen Finger. »Daran erinnere ich mich noch.«
»Du hast es unbewusst getan«, wiederholte Christopher. Es machte ihn glücklich, das denken zu können.
18 | Der Tag begann wie jeder andere Tag der letzten Monate. Dylan stempelte und sagte »Guten Morgen« zu McCosky, der wie immer in seinem Büro hinter der Zeitung saß und etwas Unverständliches zurückmurmelte. Dylan zog sich um, fischte die Liste mit den angeforderten Akten aus dem Drucker und machte sich an die Arbeit.
Vor dem Eingang zum Archiv hing, wie an etwa hundert weiteren Stellen im Haus, das aktuelle Plakat mit dem Titel »FBI Most Wanted«. An diesen Plakaten ging Dylan nie vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Sein Augenmerk galt dabei dem Foto eines bärtigen, langhaarigen Mannes, unter dem stand: Jeremiah Jones (48), alias »Der Prophet«. Gesucht wegen mehrerer Bombenanschläge mit Todesfolge und Führung einer kriminellen Vereinigung. Nach wie vor hatte dieses Bild den ersten Platz auf dem Plakat inne.
Dylan war überzeugt, dass dieser Mann zu Unrecht verfolgt wurde. Was das anbelangte, war er sich seiner Sache absolut sicher.
Denn zufällig kannte er Jeremiah Jones persönlich.
Jones und seine Freunde hatten in einem kleinen Selbstversorgerdorf an der Ostküste gelebt, Hühner und Ziegen gezüchtet, Gemüse angebaut und ihr eigenes Saatgut gezogen. Im Alter von siebzehn Jahren hatte Dylan ihnen geschrieben und gefragt, ob er zu ihnen stoßen könnte. Er hatte dem Brief ein Foto von sich beigelegt und erwähnt, dass er schon als Kind seiner Großmutter im Garten geholfen und später viele Jahre lang ein Kaninchen besessen hatte. Das war sozusagen sein Befähigungsnachweis gewesen.
Und tatsächlich hatte Jones ihn eingeladen. Vier Wochen während der Sommerferien hatte Dylan zusammen mit einem Dutzend anderer Jugendlicher auf dem Gelände, über dessen Eingangstor ein buntes Schild mit der Aufschrift The No Nonsense Farm gehangen hatte, gelebt und mitgearbeitet. Er hatte mit Jeremiah Jones am selben Tisch gesessen und mitdiskutiert, wenn es, wie meistens, darum gegangen war, wie ein gutes Leben aussah und welche Rolle die Technik darin spielen sollte. Jones war nicht grundsätzlich gegen Technik, er war nur dagegen, sich von ihr beherrschen zu lassen – was, so seine Auffassung, die meisten Menschen heutzutage taten.
»Aber«, hatte er mehrmals betont, »das muss jeder für sich
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