Kohärenz 02 - Hide*Out
selber entscheiden. Ich will lediglich die Denkanstöße geben.«
Einer der Jungen, mit denen sich Dylan das Zelt geteilt hatte, war anderer Ansicht gewesen. Die Technik zerstöre die Umwelt und damit die Lebensgrundlagen, hatte er gemeint, deshalb habe man auch das Recht, die Technik zu zerstören. Eines Abends erzählte er Dylan von einigen Aktionen, bei denen er mitgemacht hatte. Er hatte zusammen mit einer anderen Gruppe Strommasten gefällt, um gegen Kernenergie zu protestieren, Maschinen in einer Fabrik sabotiert, die Verpackungsmaterial aus Plastik herstellte, und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion sämtliche Schlösser an den Hallentoren und Eingangstüren eines riesigen Schlachthofs mit Sekundenkleber unbrauchbar gemacht.
Jeremiah Jones war alles andere als begeistert, als er davon erfuhr. »Das ist doch völliger Unsinn«, regte er sich auf. »Was glaubst du, was das gebracht hat? Ist irgendein Kernkraftwerk deswegen verschwunden? Gibt es weniger Plastikverpackungen seither? Hat die Zahl der Vegetarier zugenommen? Oder werden die Tiere wenigstens besser behandelt? Nichts von alldem, jede Wette. Alles, was du erreicht hast, ist, dass du von der Polizei gesucht wirst und Gefahr läufst, eines Tages im Gefängnis zu landen. Und dann ist wieder jemand, der ein Vorbild hätte geben können, zum abschreckenden Beispiel geworden. Mit so einem Verhalten schadest du nur, kannst du das nicht begreifen?«
»Aber man muss doch ein Zeichen setzen«, hatte der Junge protestiert. »Man muss die Menschen aufrütteln, sie zum Nachdenken bringen!«
»Aber nicht so. So bringst du sie nicht zum Nachdenken. So jagst du ihnen nur Angst ein. Und Angst hat noch nie zu etwas Gutem geführt. Angst macht blind.«
So kannte Dylan Jeremiah Jones: ein Mensch, der seine Fehler haben mochte, der aber vor allem seinen Prinzipien treu blieb. Als nach dem Anschlag auf ein Rechenzentrum in North Carolina plötzlich davon die Rede gewesen war, Jones stecke dahinter, hatte Dylan zuerst nur gelacht. Diese Behauptung war so albern, dass sie, so war er in dem Moment überzeugt gewesen, spätestens am nächsten Tag vom Tisch sein würde. Genauso gut hätte man den Papst beschuldigen können!
Aber die Behauptung wurde wiederholt und wiederholt, und ehe man sich’s versah, war daraus die offizielle Theorie geworden. Und kurz darauf hatte Dylan einen vom zuständigen Richter unterzeichneten Haftbefehl gegen Jeremiah Jones in Händen gehalten, abzulegen in der Akte über den Bombenanschlag.
Ein Justizirrtum. Dylan hatte nicht anders handeln können, als damit zu einem Faxgerät zu gehen und den Haftbefehl an die No Nonsense Farm zu faxen. Worauf es deren Bewohnern geglückt war, rechtzeitig vor dem Eintreffen der Polizei das Weite zu suchen.
Deshalb durchsuchte er seither alle Unterlagen nach Hinweisen auf die Jones-Fahndung, um ihn und seine Leute rechtzeitig warnen zu können. Natürlich benutzte er inzwischen keine Faxgeräte oder Telefone des FBI mehr; dieser Fehler war ihm nur das erste Mal passiert, im Schreck, und zum Glück folgenlos geblieben.
Jeremiah Jones war unschuldig. Die Beweise, die man gegen ihn gesammelt hatte, waren Fälschungen – doch das würde er niemals belegen können.
Deshalb tat Dylan, was er konnte, um zu verhindern, dass das FBI ihn fand.
Bis jetzt war ihm das geglückt. Doch nun hielt er ein Schriftstück in Händen, dessen Lektüre ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
19 | »Es ist wirklich verblüffend, wenn man durch das Camp geht«, meinte Serenity. »Überall hört man, wie jemand dein Lied summt. Immer noch. Ein echter Ohrwurm.«
»Ja«, sagte Madonna teilnahmslos.
Serenity musterte ihre Freundin. »Was ist los? Freut dich das denn gar nicht?«
Sie standen im Küchenzelt an einem etwas abseits stehenden Tisch und waren damit beschäftigt, einen Eimer verhutzelter, schon reichlich biegsamer Mohrrüben zu schälen. Normalerweise schälte Madonna so energisch, dass die Stücke flogen. Heute aber schien sie sich zu jeder Bewegung mit dem Schälmesser aufraffen zu müssen.
»Ich freu mich ja«, sagte sie mit einem Seufzer, der nach allem, bloß nicht nach Freude klang. »Aber mir ist halt klar geworden, dass es das war. Der Höhepunkt meiner Sängerkarriere. Ein Publikum von drei Dutzend Freunden unserer Väter, mehr ist nicht drin.«
»Was?« Serenity traute ihren Ohren nicht. »Wieso? Das war der Anfang! So wie du singst – und was für Lieder du schreiben kannst –, also, jede Wette, dass du
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