Kohärenz 02 - Hide*Out
Frage. Denn wenn das so sein sollte… dann kämpfen wir einen sinnlosen Kampf. Dann ist alles, was wir tun, zum Scheitern verurteilt. Dann sind wir die Affen, die ein paar seltsame Artgenossen daran hindern wollen, aufrecht gehen zu lernen.«
Lilian hielt den Atem an. Ihr war, als wirkten diese Worte wie Schläge gegen das Fundament der Gruppe. Als zeigten sich schon erste Risse darin.
»Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass die Menschheit sich durch das Einpflanzen von Chips… von Prothesen… fortentwickeln könnte«, meldete sich, endlich, Jeremiah zu Wort. »Das ist doch völlig absurd.«
»Was ist daran absurd? Das kommt dir nur so vor, weil du moderne Technik verdammst – «
»Ich verdamme sie doch nicht! Ich versuche nur, den Punkt zu bestimmen, ab dem wir unsere Menschlichkeit an die Technik zu verlieren beginnen. Ab dem nicht mehr die Technik uns dient, sondern wir der Technik.«
Neal Lundkvist seufzte. »Darüber haben wir schon so oft gestritten. Was soll ich anderes sagen als das, was ich schon immer gesagt habe? Einen solchen Punkt gibt es nicht. Es gibt nur einen fließenden Übergang. Selbst wenn du nur, sagen wir, ein Feuer machst – eine denkbar einfache Form von technischem Hilfsmittel, oder? –, dann benutzt du einerseits das Feuer, andererseits zwingt dich aber der Wunsch, ein Feuer zu benutzen, zu bestimmten Zugeständnissen. Du musst Zeit damit verbringen, Brennmaterial zu sammeln. Du musst das Feuer hüten, damit es nicht auf den Wald überspringt. Das Feuer dient dir, aber damit es das tut, musst du auch ihm dienen. Das hat immer diese zwei Seiten.«
»Die irgendwann so gewichtet sein können, dass du der Technik mehr dienst als sie dir.«
»Das kommt doch ganz auf die Situation an.« Der Arzt hob die Hände. »Wenn du ganz ehrlich wärst, müsstest du zugeben, dass Mensch und Technik schon seit Urzeiten in Symbiose leben. Das letzte Mal, dass ein Mensch… ach was, dass ein Primat ohne jegliche Hilfsmittel ausgekommen ist, liegt Jahrmillionen zurück. Heutzutage kann niemand mehr ohne technische Hilfsmittel überleben – niemand. Technik gehört zu unserem Menschsein, ob dir das gefällt oder nicht. Und ob man irgendwann körperlich damit verschmilzt, ist nur noch ein gradueller Unterschied.«
»Also, ich habe einen Neffen«, warf Finn ein, »bei dem man erst mal nachsehen müsste, ob sein Telefon nicht schon mit seiner Hand verwachsen ist.«
Keiner lachte.
»Jeremiah, du kannst nicht so tun, als sei Evolution etwas, das sich auf körperliche Veränderungen beschränkt«, fuhr Lundkvist unbeirrt fort. »Es gibt Vogelarten, die Werkzeug benutzen, um an ihr Futter zu kommen. Wie man das macht, lernen sie nicht von ihren Eltern, das ist instinktives Verhalten – mit anderen Worten, die Evolution hat es hervorgebracht. Technik! Okay, es ist eine simple Technik – abgebrochene Stacheln, mit denen sie nach Maden stochern und dergleichen –, aber so haben unsere Vorfahren auch mal angefangen.«
Lilian sah zu Jeremiah. Warum überließ er Neal die Bühne? Warum ließ er zu, dass jemand derartige Gedanken verbreitete? Das, was der Arzt da sagte, klang logisch, klang überzeugend – aber es kam ihr vor wie reines Gift.
»Überlegt doch selber«, forderte Neal die Runde auf. »Einer der wichtigsten Schritte in der Entwicklung des Lebens auf der Erde war der Übergang vom Einzeller zu Organismen, die aus mehreren Zellen bestehen. Für die einzelne Zelle hat das damals auch bedeutet, ihre Eigenständigkeit zu verlieren – natürlich. Aber dafür hat sie Möglichkeiten hinzugewonnen, die sie allein niemals hätte haben können. Und ich meine, man muss sich schon fragen, ob sich mit der Entstehung der Kohärenz nicht vielleicht etwas ganz Ähnliches vollzieht. Klar, wenn alle Menschen zu einer Ganzheit zusammenfinden, verlieren sie ihre bisherige Eigenständigkeit, das stimmt. Aber ist das schlimm? Es kommt uns, aus unserer Sicht als Einzelwesen, so vor. Aber was sind wir denn als Einzelwesen? Wer bin ich? Ich, Neal Lundkvist, bin doch auch schon ein Zusammenschluss von Zellen, ein Gebilde aus Billionen von Organismen, die vor Jahrmillionen unabhängige Lebewesen gewesen wären. Aber trauert deswegen nun irgendeine Nervenzelle in meinem Gehirn um ihre verlorene Eigenständigkeit? Nein, tut sie nicht. Sie ist ja jetzt Teil eines großen Ganzen. Sie ist ein Teil von mir! Es gibt mich überhaupt nur deshalb, weil Billionen einzelner Zellen auf ihre Eigenständigkeit
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