Kohärenz 03 - Time*Out
Irgendwie hatte er gelernt, solche Wünsche gar nicht erst hochkommen zu lassen. Besser, man hielt sich aus einem Spiel raus, für das man kein Talent hatte, oder?
Und wenn er sich Hoffnungen auf ein Mädchen wie Serenity machte, war das ... also, größenwahnsinnig war noch untertrieben. Einmal hatte er sie, aus Versehen, halb nackt gesehen. Dieses Bild, wie sie da mit bloßem Oberkörper am Seeufer saß, strahlte in seiner Erinnerung wie eins dieser von hinten beleuchteten Werbeplakate. Man sah Serenity immer nur in unscheinbaren Schlabberklamotten, aber darunter war sie, wow, ein atemberaubend schönes Mädchen, mit ihren wilden Löwenhaaren und all diesen wundervollen Sommersprossen ...
Nein, besser, er ließ das Träumen bleiben. Alles andere würde nur zu schrecklichen Enttäuschungen führen. Clive erzählte weiter. »Wir haben geheiratet und sind nach Kansas gezogen, weil Mary dort eine Stelle als Lehrerin an einer Grundschule gekriegt hat. Ich hab mir einen Job in einer Autowerkstatt geangelt, wir hatten ein Häuschen im Grünen, alles war bestens. Das Einzige, was gefehlt hat, waren Kinder, aber das war nur eine Frage der Zeit, dachten wir.« Seine Stimme bekam einen dünnen Klang. »Stattdessen wurde Mary krank.«
»Oh«, machte Christopher unbehaglich.
Clives Blick war starr geradeaus auf die Straße gerichtet. Er schien sich in Erinnerungen zu verlieren, in schönen wie in traurigen. Als Christopher fast nicht mehr damit rechnete, fuhr Clive mit brüchiger Stimme fort: »Anderthalb Jahre später ist sie gestorben. Wir haben alles versucht, jede Therapie, die es gab, egal, was es gekostet hat. Ich habe Kredite aufgenommen, so viel ich kriegen konnte. Am Schluss hatte ich gerade noch genug Geld, um meine Mary anständig zu beerdigen. Eine Woche darauf kam der Brief von der Bank. »Einladung zu einem Gespräch über meine finanzielle Situation« nannten sie es, aber mir war klar, worauf es hinauslaufen würde: Ich würde alles verlieren, was ich besaß, und den Rest meines Lebens Schulden abzahlen.«
Christopher schluckte. Zu erleben, wie dieser Mann das erzählte, ließ ihn ahnen, wie sehr Clive seine Frau geliebt haben musste. Auf einmal verstand er, dass es das war, was Liebe ausmachte: dass man für den anderen alles auf sich nahm, was nötig war. Dass der andere einem wichtiger war als man selbst.
Clives Erzählung ließ Christopher an seine Mutter denken, die sich einst auf andere Weise in eine ähnliche Situation manövriert hatte. Letztendlich hatte das zu dem Coup gefuhrt, der Christopher den Ruf eingebracht hatte, der beste Hacker der Welt zu sein. Jener Coup, der die glückliche Zeit seines Lebens beendet hatte.
Jener Coup, mit dem letztlich alles angefangen hatte – sogar die Entstehung der Kohärenz.
»Ich ging natürlich hin«, fuhr Clive fort. »Was hätte ich schon anderes tun sollen? Der Termin war abends, nach dem offiziellen Schalterschluss. Das machten sie immer so, wenn es ernst wurde – die anderen Kunden sollen es nicht mitkriegen, falls jemand anfängt, herumzuschreien oder in Tränen auszubrechen. War eine roße Filiale, die Hauptgeschäftsstelle von Kansas. Und niemand mehr da, nur ich und die Wachleute und mein Bankberater. Ich weiß nicht, wer von uns beiden bleicher im Gesicht war. Er kannte meine Geschichte ja, aber er konnte auch nichts machen. Da waren eben diese Schulden. Ich hatte sie schwarz auf weiß vor mir. Er sagte: ›Tja, Clive, schauen wir mal‹, und rief an seinem Computer mein Konto auf.« Clive grinste dünn. »Ich sehe ihn noch vor mir. Tim hieß er. Tim Briggs. Ich sehe noch, wie er auf den Schirm schaut und wie seine Augen immer größer und größer werden. Und dann flüstert er: ›Jemand hat Ihnen eine Milliarde Dollar überwiesen.‹«
Christopher schnappte nach Luft. »Doch nicht etwa –?«
»Na klar. Davon wusste ich in dem Moment natürlich noch nichts – niemand wusste das –, aber es war der Tag, an dem ein gewisser ComputerKid im fernen Deutschland die Banken aufs Kreuz legte, wie sie noch nie aufs Kreuz gelegt worden waren. Der Tag, an dem ein dreizehnjähriger Hacker jeden Menschen auf Erden zum Milliardär gemacht und damit die verrückteste Finanzkrise aller Zeiten ausgelöst hat.«
»Aber wie kann das –?« Christopher hielt inne, rechnete. Er hatte den Virus, der im Computersystem der Banken zahllose Trillionen aus dem Nichts erzeugt hatte, um genau 23:51 Uhr Mitteleuropäischer Zeit abgeschickt. Kansas lag im Mittleren Westen
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