Kohärenz 03 - Time*Out
brauchte sie gar nicht erst fragen. »Hey, ich hab noch nicht mal dein Lied gehört!«, wechselte sie das Thema und erklärte Madonna, wie das mit der Mail gelaufen war. »Ich hab bei der Küchenarbeit immer das Radio angemacht, aber es ist nicht gekommen. Oder ich hab's nicht erkannt.«
Madonnas Gesicht verdüsterte sich. »Du hättest es erkannt. Es wird nicht gespielt, das ist das Problem.«
Doch ehe sie mehr dazu sagen konnte, waren die Augenblicke, die sie allein miteinander hatten, erst mal vorüber. Die anderen, bis gerade eben noch mit George beschäftigt, kamen hinzu, es gab einen regelrechten Auflauf, der sich dann in die Küche verlagerte, wo Madonna die Studiofassung ihres Songs vorspielte. Sie hatte das Lied auf einem MP3-Player dabei, den sie mit der Anlage im Speiseraum verband.
Serenity traute ihren Ohren kaum. Okay, vielleicht war es was anderes, wenn man den Werdegang eines Lieds so miterlebte, wie sie es mit No Longer Lonely erlebt hatte. Auf jeden Fall kam es ihr vor wie der beste Song, den sie je im Leben gehört hatte. Das Lied war schon ein Ohrwurm gewesen, als Madonna es einfach nur mit der Gitarre gesungen hatte, aber wie nun Bass, Schlagzeug und Keyboards ihre Stimme ergänzten, den Rhythmus betonten, und die Art und Weise, wie Madonna auf der Aufnahme ganz unauffällig mit sich selbst im Duett sang ... Es war nicht zu fassen.
Serenity hatte das Gefühl, immer kleiner zu werden, während der Song lief. Was hatte sie dagegen schon zu bieten?
Alle waren sich einig, dass das Stück großartig war. »Das wird bestimmt ein Nummer-eins-Hit«, meinte jemand.
Madonna blickte finster drein. »Aber leider nicht meine Aufnahme«, sagte sie. »Auf Platz Nummer eins ist nämlich schon Cloud – mit meinem Lied!«
Verwirrung, Entrüstung, und ein paar Hide-Out-Leuten musste man erklären, wer Cloud war. »Ihre Version ist fast zeitgleich mit meiner herausgekommen, aber sofort nach oben geschossen«, erzählte Madonna. »Sie ist halt schon bekannt. Und durch diese Internet-Geschichte scheint sich das Lied mehr eingeprägt zu haben als mein Name.«
»Kann sie das einfach so machen?«, wunderte sich jemand. »Ich meine, es ist doch dein Song! Du hast ihn geschrieben!«
Madonna hob die Schultern. »Jeder darf von jedem Song eine Coverversion machen. Das ist künstlerische Freiheit. Klar, ich verdiene jetzt Geld an ihrem Nummer-eins-Hit, aber anders wär's mir natürlich lieber.« Sie seufzte. »Außerdem ist ihre Version grauenhaft. Wartet, ich spiel sie euch vor.«
Madonna fummelte an ihrem Player und gleich darauf klang eine andere Version desselben Lieds aus den Boxen. Serenity war nie ein großer Fan von Cloud gewesen, aber natürlich erkannte sie deren charakteristische, näselnde Stimme wieder. Doch was an diesem Stück grauenhaft sein sollte, erschloss sich Serenity nicht. Für ihre Ohren klang der Song auch nicht schlecht.
»Hört euch das an!«, rief Madonna aufgeregt. »Wenn es nicht ihre Stimme wäre, würde man sagen, das kann unmöglich Cloud sein, oder?«
»Wieso?«, fragte Kyle. »Das ist sie eindeutig.« Im Unterschied zu den meisten hatte Kyle Cloud schon bei einem Konzert gesehen, war ihr sogar, da er als Sanitäter hinter der Bühne Dienst getan hatte, persönlich begegnet.
»Klar ist sie das«, erwiderte Madonna ungeduldig. »Was ich meine, ist, dass das nicht ihre Art ist, Musik zu machen. Hört euch zum Beispiel mal das hier an, das ist von ihrem letzten Album.« Sie ließ ein anderes Stück laufen, einen Hit aus dem letzten Jahr. Es hieß »My Own Mind« und fiel dadurch auf, dass ein hell klingendes Schlaginstrument einen eigentümlich vertrackten Gegenrhythmus zum Refrain spielte.
»Das ist Cloud«, verkündete Madonna. »Sie bringt immer was Neues, Ungewohntes, macht keinen Mainstream. Sie verblüfft ihre Hörer. Das Stück hier pulsiert vor Leben! Das dagegen« – sie spielte wieder Clouds Version von No Longer Lonely an – »ist tot. Plastik. Technisch perfekt, aber völlig leblos.«
Serenity bemühte sich, vorurteilsfrei hinzuhören. Sie war sich unsicher, ob sie hörte, wovon Madonna sprach, oder ob sie sich das nur ihrer Freundin zuliebe einredete. Allerdings gefiel ihr nun, beim zweiten Hören, das Stück schon deutlich weniger als Madonnas eigene Version.
»Hat vielleicht mit der neuen Plattenfirma zu tun«, mutmaßte jemand.
»Vielleicht.« Madonna schien das nicht zu glauben. »Aber ehrlich gesagt – wenn es nicht technisch unmöglich wäre, würde ich
Weitere Kostenlose Bücher