Kohärenz 03 - Time*Out
agiert als eigene Firma, gehört aber zu hundert Prozent FriendWeb. Sie hat in vielen Städten sogenannte Lifehook-Centers eingerichtet. In kleineren Gemeinden wird die Implantation von Arztpraxen, teilweise sogar von Tätowierstudios angeboten.«
Wieder ein paar Schritte zur Seite, eine Bewegung der Hand über eine Gruppe von Dokumenten. »Die Reaktionen in der Presse sind vorwiegend positiv. Nur aus den ersten Tagen gibt es Meldungen, dass Lehrer ein Verbot der Lifehooks für Minderjährige fordern oder eine Möglichkeit, ihn im Unterricht und in Prüfungen abzuschalten. Eine Gruppe von Eltern hat FriendWeb verklagt, weil die elterliche Zustimmung zur Implantation nicht verifiziert wird. Die Klage wurde abgewiesen aus dem formalen Grund, dass nicht die Firma FriendWeb für die Implantationen verantwortlich ist, sondern die Lifehook-Corporation. Danach«, fügte Jeremiah Jones hinzu und tippte auf die mit rotem Filzstift fett notierten Datumsangaben, »kommt über den Fall nichts mehr.«
Er wechselte zu einer anderen Wand. »In Blogs und Wirtschaftsmagazinen wird der Lifehook ebenfalls diskutiert. Viele sind der Ansicht, dass ein Lifehook auch für Geschäftsleute nützlich ist. Einige haben ihn sich schon implantieren lassen und schreiben über ihre Erfahrungen.«
Nächste Wand. »Wenn sich Träger von Lifehooks in Internet-Foren und Netzwerken zu Wort melden, äußern sie sich fast nur enthusiastisch. Hier haben wir ein paar Beispiele ausgedruckt. Die meisten versuchen mehr oder weniger direkt, andere davon zu überzeugen, sich ebenfalls einen Lifehook implantieren zu lassen.«
Er kehrte an die hintere Wand zurück, wies auf eine dort angepinnte Zeitungsseite, die in großen Lettern verkündete: Frau (89) in Vermont tot: Hätte sie ein Lifehook gerettet?
»Das ist am neunten Juni im Norden von Vermont passiert, dicht an der Grenze zu Kanada. Eine Frau wurde tot aufgefunden, die eine Woche zuvor aus einem Altersheim verschwunden war. Sie litt an Alzheimer und hat sich wahrscheinlich verlaufen.« Jones legte die Hand auf den Text der Meldung. »Hier wird diskutiert, ob man alten Menschen mit Demenzerkrankungen generell einen Lifehook implantieren sollte, weil man sie darüber im Notfall sofort lokalisieren könnte.«
Christopher sah sich verstohlen um. Er meinte, auf den Gesichtern der Anwesenden Niedergeschlagenheit zu lesen. Auch Jeremiah Jones klang nicht gerade wie jemand, der aufbauende Neuigkeiten zu verkünden hatte, sondern wie ein Mann, der sich geschlagen sah.
»Okay. Dann frage ich mich, wozu wir uns eigentlich noch anstrengen.« Das war Melanie Williams, Jeremiahs Freundin. Zumindest war sie das gewesen, bis dessen Frau zur Gruppe gestoßen war; seither sah man die beiden kaum noch zusammen.
»Wie meinst du das?«, fragte Jones zurück.
»Welchen Sinn hat es, gegen die Kohärenz zu kämpfen, wenn die Menschen sie offenbar wollen?«
»Sie wollen sie nicht«, widersprach Jones.
»Doch, wollen sie! Es kostet neunzehn Dollar, sich einen Lifehook einpflanzen zu lassen. Nicht die Welt, aber es kostet etwas. Und man muss hingehen. Man muss warten. Man muss es tun.« Sie strich ihre langen, wie flüssiges Silber fallenden Haare zurück. »Wenn das niemand täte ... wenn die auf ihren Chips sitzen bleiben würden ... dann wäre der Spuk schon vorbei. Stattdessen rennen die Leute hin – in Massen!«
»Weil sie getäuscht werden«, sagte Jeremiah Jones. »Man verspricht ihnen Vorteile. Es sind diese Vorteile, die sie haben wollen. Den Verlust der eigenen Persönlichkeit – den will niemand.« Er trat an eine Stelltafel, auf der breite Spalten eingezeichnet waren, über denen Zettel mit Datumsangaben hingen: neunter Juni, zehnter Juni und so weiter. In den Spalten waren Zeitschriftenartikel angepinnt und durch gespannte Wollfäden miteinander verbunden. »Wenn man sich die kritischen Stimmen zum Lifehook anschaut, dann fällt auf, dass alle einflussreichen Bedenkenträger – renommierte Rezensenten wie Dick Poldo, Peter Carrington, Larry Hayes und so weiter –, etwa vier bis fünfTage nach Erscheinen ihrer ersten Artikel plötzlich ihre Meinung geändert haben. Inzwischen singen sie alle das Loblied auf den Lifehook.«
»Vier bis fünf Tage«, sagte Russell mit grollender Stimme. »Genau die Zeit, die es dauert, bis jemand von der Kohärenz übernommen worden ist.«
»Du sagst es.« Jones nickte. »Offenbar hat die Kohärenz diese Leute aufgesucht und ihnen die guten alten Chips eingepflanzt. Die
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