Kohärenz 03 - Time*Out
gehen, ohne dass sie dich bemerkt. Das könnte noch einmal ein entscheidender Faktor werden!«
»Aber die Kohärenz wird nicht aufgeben, mich zu kriegen«, sagte Christopher. »Und wir können nicht wissen, was ihr als Nächstes einfällt. Wir können es einfach nicht wissen.«
Serenity beobachtete ihren Vater und hielt den Atem an. Ihr Dad war ein vorwiegend friedliebender, diskussionsbereiter Mann. Aber es gab auch einen Jeremiah Jones, den die meisten nicht kannten. Serenity hatte ihn in Momenten erlebt, in denen er vor Wut brannte, vor Zorn fast explodierte, in denen er keine andere Meinung gelten ließ als seine eigene.
Eine Erinnerung war besonders stark. Sie war mit ihren Eltern im Wald unterwegs gewesen, hatte ihre Schuhe ausgezogen und war durch einen Bach gewatet, wie sie es als Kind oft und gern getan hatte. Plötzlich ein Schmerz, Blutspuren im Wasser: Sie hatte sich die Fußsohle an einer Glasscherbe aufgeschnitten, die, wie sich herausstellte, von einem Haufen Müll stammte, den jemand achtlos in den Wald gekippt hatte. Dad war rot angelaufen, hatte einen dicken Ast gepackt und am nächsten Baum zerschmettert, ihn mit einem wuchtigen Schlag buchstäblich in Fetzen geschlagen und gebrüllt: »Manchen Leuten müsste man es mit dem Baseballschläger erklären!«
Und in letzter Zeit – seit dieser Kampf gegen die Kohärenz, dieser so aussichtslos scheinende Krieg gegen eine Übermacht, immer schärfer wurde – entdeckte sie an ihrem Vater wieder Anflüge dieses unnachsichtigen Zorns. In manchen Momenten merkte sie, dass seine Bereitschaft, sich auf Kompromisse einzulassen, nachließ.
Es war nur ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen, dann war er wieder der Jeremiah Jones, den die meisten kannten: wortgewandt argumentierend, seinen Standpunkt mit Humor und Hartnäckigkeit vertretend, aber um Ausgleich bemüht.
»Ich kann verstehen, dass du die Chips loswerden willst«, sagte er zu Christopher. »Ich an deiner Stelle würde mir wohl auch nichts sehnlicher wünschen. Aber du bist nun einmal immer noch unsere größte Hoffnung in diesem Kampf. Niemand sonst könnte mit diesen Chips so umgehen wie du, der beste Hacker der Welt. Wir haben nicht so viele Chancen gegen die Kohärenz. Wir können es uns nicht leisten, auf eine davon zu verzichten.«
»Vor drei Wochen hat nicht viel gefehlt und ich hätte mich von einer Chance in eine Gefahr verwandelt«, sagte Christopher düster.
»Aber es ist nicht so gekommen. Du warst stark genug. Du warst mutig genug. Und letzten Endes – auch das sollte man nicht gering schätzen – war das Schicksal auf deiner Seite. Wärst du nicht gewesen«, sagte Dad und legte seinen Arm um Serenitys Schulter, »wären meine Tochter und mein Sohn der Kohärenz zum Opfer gefallen. Niemand anders als du hätte sie retten können.«
Christopher sah Dad an, dann sah er Serenity an. Der Blick seiner Augen wurde weich. »Okay«, meinte er schließlich mit einer Stimme, in deren Klang sich Resignation und Stolz mischten.
6
Als Christopher am Sonntagmorgen aufwachte, fühlte er sich bleischwer. Das Abenteuer in Wells steckte ihm immer noch in den Knochen.
Es war dunkel. Allerdings war es hier immer dunkel, egal, wann man aufwachte. Er hörte die gleichmäßigen Atemzüge seines Vaters, der in dem Bett an der gegenüberliegenden Wand schlief. Die Stollenanlage des Hide-Out war riesig, klar, aber die Anzahl der bewohnbaren Räume darin war begrenzt. Das meiste waren Gänge. Tief unten gab es Stollen, in denen Stockbetten standen, Hunderte davon – »für den Notfall«, hatte jemand erklärt. Man hatte sich seinerzeit vorgestellt, Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, wenn der Dritte Weltkrieg ausbrach.
Dass ein Weltkrieg auch ganz anders aussehen konnte – das hatte man damals nicht ahnen können. Doch nichts anderes war es, was die Kohärenz tat: Sie führte einen heimlichen Krieg mit dem Ziel, die Welt zu erobern.
Und sie würde es schaffen. Nur ein Wunder konnte das noch verhindern.
Christopher seufzte leise. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Er hatte von früher geträumt. Von der Zeit, als sie in Frankfurt gewohnt und seine Großeltern noch gelebt hatten. In dem Traum hatte er im Atelier seiner Großmutter gesessen, eine Tasse Kakao in der Hand, und ihr beim Malen zugesehen. Sie hatte an einem riesigen Bild gearbeitet, einem hässlichen Gemälde, das aus nichts anderem als einem schier endlosen Gittermuster zu bestehen schien. »Na?«, hatte sie gefragt. »Fällt dir nichts auf?«
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