Kohl des Zorns
seinem Aussehen nach die volle Wucht der Explosion abbekommen hatte. »Sieht aus wie ein Schatten, Sir.«
Hovis legte den Kopf zur Seite und starrte die Mauer hinauf. Auf der verkohlten Betonwand war tatsächlich deutlich ein merkwürdiger Umriß zu sehen. »Was meinen Sie, Sir? Ein kauernder Mensch? Oder vielleicht ein Hund?«
Der Inspektor öffnete den Griff seines Stocks und führte sich eine Prise zu Gemüte. Das Abbild war mißgestaltet, die Proportionen stimmten nicht. Sie wirkten übertrieben. Und noch etwas: Das Bild schien dumpf zu leuchten, und es brachte eine Saite des Wiedererkennens zum Schwingen. Allerdings war Hovis außerstande, dem Wiedererkennen einen Namen zu geben. »Schaffen Sie die Burschen von der Spurensicherung herbei! Sie sollen Photos machen, bevor der Regen alles wegspülen kann! Vielleicht ist es wichtig, vielleicht aber auch nicht.«
»Jawohl, Sir!«
Hovis streckte vorsichtig den Finger aus und fuhr über die Wand, wobei er darauf achtete, die Umrisse nicht zu berühren. Dann betrachtete er interessiert seinen Finger. »Nun, Konstabler?« fragte er. »Wie sieht das in Ihren Augen aus?«
Meek spähte angestrengt auf Inspektor Hovis’ Fingerspitze. »Goldfarbe, Sir. Oder auch Blattgold.«
»Oder Goldstaub. Gute Arbeit, Konstabler. Vielleicht ist das die erste heiße Spur.«
Meek streckte die Brust heraus. »Danke sehr, Sir!«
»Und jetzt machen Sie, daß Sie zur Forensischen kommen. Sie sollen die Bilder schießen und mir bis spätestens Mittag auf den Schreibtisch legen.«
Meeks Brust fiel in sich zusammen. Verdammter Bastard, dachte er. »Jawohl, Sir.«
Jennifer Naylor neigte die Kaffeekanne in Richtung der teuren chinesischen Porzellantasse und schenkte sich vom Entkoffeinierten ein.
Sie trug die zerbrechliche Tasse ins Wohnzimmer hinüber, wo ein Beistelltisch zufällig genau so stand, daß er sich auf seinen grob gemaserten Wurzelahornbeinen zu allem beistellen ließ. Die Platte glänzte im Licht der goldenen Sonne und trug das Gewicht von sechs verschiedenen Sonntagszeitungen, die ein lässiges Ensemble bildeten. Jennifer überflog die Schlagzeilen und nippte an ihrem Kaffee. Das Projekt hatte bisher ganz erstaunlich wenig Widerstand erfahren. Die Dinge kamen gut voran. Die öffentliche Meinung — jene launische Kreatur, deren Existenz nur von denen bestritten wird, die danach trachten, sie auf ihre Seite zu bringen — war gejagt und eingefangen und saß nun in ihrem eigenen Käfig.
Jennifer war eine der Wächterinnen über diesen Käfig, und ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, ihn warm und behaglich und vor allen anderen Dingen sicher verschlossen zu halten. Sie wußte — genau wie alle anderen, die direkt mit dem Projekt befaßt waren — womit sie es zu tun hatte. Humanisierung der Technik. Technologie als Freund und Diener der Menschheit statt Technologie als furchterregender Tyrann der Unwissenden. Die Erhaltung des Wohlwollens von Regierung und Volkesstimme hatte oberste Priorität. Jeder Aspekt eines jeden Aspektes mußte mit der allergrößten Umsicht gehandhabt werden. Das Stadion würde das Achte Weltwunder werden, das technokratische Monument eines unbekannten Genius, doch trotz all der Ehrfurcht, die es erregte, mußte es menschlich bleiben. Das war das Wichtigste und stand über allem: menschlich.
Jennifer überflog eine oder zwei Kolumnen und nickte hochzufrieden. Die Fleet Street war bereits voller patriotischer Leidenschaft. Das Desaster von Birmingham war vergessen. Brentford gehörte die Zukunft.
Unter dem Zeitungsstapel lag ein Umschlag aus Metallfolie, der an eben jenem Morgen per Sonderzustellung eingetroffen war. Jennifer setzte ihre Kaffeetasse auf den Sonntagszeitungen ab und öffnete ihn. Darin fand sie einen Stapel Computerausdrucke sowie einen Scheck auf ihren Namen mit einer Summe, die mehr als ausreichte, um ihren gegenwärtigen Bedarf zu decken. Sie musterte interessiert die Unterschrift, doch sie war nicht zu entziffern und erinnerte eher an ein runisches Symbol als an lateinische Schriftzeichen. Der Architekt und Schöpfer des großen Stadions, Erfinder des Gravitits und Finanzier der Olympischen Spiele von Brentford war Jennifer ein genauso großes Rätsel wie allen anderen.
Doch es ging sie auch nichts an. Sie wandte sich den Computerausdrucken zu. Ein Terminkalender, der ihre Verpflichtungen für die kommende Woche enthielt. Anhörungen, die arrangiert werden mußten, Pressekonferenzen, die sie abzuhalten hatte, wer
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