Kohl, Walter
gab, die
von sich sagen können, dass ihre besten Spielkameraden Polizisten waren?
Unser
eigener Vater spielte so gut wie nie mit uns, außer wenn es von
Pressefotografen für eine Homestory gewünscht wurde. Er hatte ja keine Zeit.
Dafür konnten wir nun über einen großen Teil der Dienstzeit von Herrn Schneider
verfügen - und das war wie ein Geschenk des Himmels für uns. Ich bin dankbar
dafür, durch ihn die äußerst befriedigende Erfahrung handwerklicher Betätigung
gemacht zu haben. Wo und wie hätte das sonst geschehen können, als angeleitet
durch einen unserer Leibwächter? Durch ihn erlernten wir die Herstellung und
Bearbeitung eines Werkstücks aus Holz: das Ansetzen der Hölzer, um Nut und
Feder zu schaffen und damit haltbare Verbindungen zu ermöglichen. Darüber
hinaus erklärte er uns, wie man stabile Konstruktionen schafft, etwa warum
eine leichte Fachwerkkonstruktion belastbarer ist als eine massive
Stapelbauweise. Wir gruben die Eckpfosten tief ein, klopften die Erde mit Stampfern
fest, die wir selbst gezimmert hatten. Wir verstrebten die Trägerbalken und
errichteten Stockwerk auf Stockwerk. Schließlich besaß unser Turm nicht
weniger als vier Etagen und überragte sogar unser Wohnhaus. Auf dem First
befestigten wir unsere Fahne - ein bunter Lumpen zwar nur, aber wie herrlich
flatterte er im Wind!
Nach
langer Zeit waren wir wieder einmal so richtig glücklich und stolz. Was aber
das Schönste war: Unsere Aktivitäten übten eine geradezu magnetische
Anziehungskraft auf andere Kinder aus. So bekamen wir endlich auch
gleichaltrige Spielkameraden. Ihre Eltern, die sie eigentlich nicht mit uns
spielen lassen wollten, hatten vor der Magie unseres Turmes kapituliert.
1972 war
die erste Generation der RAF hinter Gitter gekommen. Wer geglaubt hatte, das
Kapitel Linksterrorismus sei damit geschlossen, sah sich schwer enttäuscht.
Eine zweite Generation von Untergrundkämpfern war herangewachsen, und sie
agierte mindestens so entschlossen und gewissenlos wie ihre Vorbilder. Als das
RAF-Mitglied Holger Meins 1974 in der Haft an den Folgen eines Hungerstreiks
verstarb, kam es zu einer Serie neuer Anschläge. Die Sicherheitslage machte es
uns nun vollends unmöglich, im Freien zu spielen. Sobald ich nur vor die Tür
trat, begleitete mich die Bewachung wie mein eigener Schatten. Die Nervosität
und Anspannung der Sicherheitsleute war mit Händen zu greifen. Mit Erschrecken
stellte ich fest, dass sie sich nicht nur um unser Leben sorgten, sondern auch
um ihr eigenes. Ich bekam nämlich mit, was hinter den oft überraschenden
Personalwechseln im Schultransport für mich steckte: nichts als nackte Angst.
Sie schoben sich diesen Dienst gegenseitig zu, weil sie ihn für besonders
gefährlich hielten. Ich wusste es aus ihren Gesprächen untereinander, die ich gezielt
belauschte, um mir ein halbwegs realistisches Bild meiner eigenen Lage zu
machen. Meine Eltern verweigerten ja nach wie vor eine offene und ehrliche
Aussprache über die tatsächliche Bedrohungslage. Niemand sprach Klartext mit
mir, keiner sagte mir die volle Wahrheit. Wenn davon geredet wurde, dann immer
nur, um die Verhältnisse zu verniedlichen und vage Aussagen zu treffen, etwa
dass »alles« bald vorüber sei und dass die Terroristen »bald« ihre verdienten
Gefängnisstrafen antreten würden. Ich aber wusste es besser, zumindest konnte
ich es mir zusammenreimen. Darunter litt ich unsäglich, und wahrscheinlich ist mir aus eben
diesem Grund jedes Spiel mit Halb Wahrheiten zutiefst zuwider, bis heute.
Doch eines
Tages kam die Wahrheit auf den Tisch wie eine unappetitliche Speise, die keiner
bestellt hatte, die aber trotzdem geschluckt werden musste. Es war im Sommer
1976, mein Vater führte erstmals Wahlkampf als Kanzlerkandidat der CDU/CSU: ein
Anlass für die Sicherheitsbehörden, um von einer weiteren Verschärfung der
Bedrohungslage auch für seine Familie auszugehen. Ein Grund wohl auch, um mit
seinem mittlerweile dreizehnjährigen ältesten Sohn erstmals eingehend das
Risiko zu erörtern. Dies geschah in gleich
mehreren, innerhalb weniger Tage aufeinander folgenden Gesprächen.
Das erste
fand bei schönstem Sommerwetter auf unserer Terrasse statt. Es ist rätselhaft,
nach welchem Mechanismus das kindliche Gemüt ganz bestimmte Details aus einem
einschneidenden Erlebnis selektiert, um sie wie auf einem fotografischen Film
im Gedächtnis zu speichern. So kann ich mich an gewichtige Sätze, die dort
gesprochen wurden, noch ebenso lebhaft
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