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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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zu Hause klar reglementierte Fernsehzeit
optimal zu nutzen, entschied ich mich im Zweifelsfall lieber für einen Reisebericht
über die USA als für einen x-beliebigen Abenteuerfilm. Ich las alle Bücher über
die USA, die in der Stadtbücherei zu haben waren. Ja, ich war ein
hundertprozentiger USA-Fan, und ich machte mir nichts daraus, dass das
Amerikabild der Deutschen, insbesondere meiner eigenen Generation, schon tiefe
Kratzer erlitten hatte.
    Ja, ich
wollte in den USA studieren! Und dazu brauchte ich die Unterstützung meiner
Eltern. Mutter war von meinem Plan angetan, für sie war es kein extravaganter
Wunsch, sondern der Ausdruck des Willens, den häuslichen Herd zu verlassen
und das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Mutter verstand, dass ich ein
freies Leben führen wollte, fern der Belastungen meiner Herkunft. Vater war
eher skeptisch. Er wollte, dass seine Kinder eine solide Ausbildung erhielten,
aber keine »Extrawürste« gebraten bekämen. Seine Argumentation war jedoch
etwas halbherzig. Die hohen Kosten ins Feld zu führen und allenfalls einem
Auslandsaufenthalt von einem Jahr zustimmen zu wollen, zog nicht. Mutter setzte
sich leidenschaftlich dafür ein, dass ich die gewünschte Chance erhalten
sollte. Und sie setzte sich diesmal durch. Letztlich schuf sie schlicht und
ergreifend Tatsachen, kraft ihres Amtes als Familienmanagerin. Auch half sie
mir bei der Bewerbung und Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfungen. Schließlich
sorgte sie für eine Finanzierung meines Studiums.
    Meine
Freude und Genugtuung waren groß. Ich bin meiner Mutter dankbar, dass sie
maßgeblich dafür sorgte, dass ich eine gute berufliche Ausbildung erhielt und
mir dabei sogar den Duft der großen weiten Welt um die Nase wehen lassen
durfte. Indessen, auch hierbei gab es einen Preis zu entrichten. Ich meinte
zwar, meinem innersten Wunsche zu folgen, aber es war doch nur ein vager Traum
von Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Ich lebte nicht mein eigenes Leben,
sondern rang um einen Kompromiss zwischen meinen persönlichen Möglichkeiten
und den Vorstellungen meiner Mutter für mich. Diese übertrug sie auf mich, denn
sie meinte es ja gut mit mir, ihrem Kind, das sie sehr liebte. Ich sollte ihre
inneren Bilder eines perfekten Lebens nicht nur für mich, sondern auch für sie
Wirklichkeit werden lassen. Es »immer gut mit mir zu meinen« war ihre Art und
Weise, mir ihre Liebe zu beweisen.
    Auch wenn
meine Mutter, als Frau des Bundeskanzlers, ein interessantes und
ereignisreiches Leben führte, auch wenn sie dabei Gelegenheiten erhielt und
nutzte, ihrem eigenen Weg zu folgen, nagte die Enttäuschung darüber, auf ihr
eigenes Studium verzichtet haben zu müssen, immer noch an ihr. Sogar jetzt
noch, gut 30 Jahre später. Während meiner Studienzeit wurde mir das immer
klarer. Sie flocht immer wieder ein, dass ich »meinen Doktor machen müsste«
(sie sagte stets »müsste«, nicht »sollte« oder »könnte«). Ihr wichtigstes Argument
dafür ließ erkennen, dass sie mich ganz unbefangen für die stellvertretende
Erfüllung ihres eigenen Lebenstraums einzusetzen trachtete.
    »Ich habe
in meiner Jugend diese Chance nicht gehabt. Du hast sie, bitte nutze sie.«
    So lebte
ich ständig in dem Gefühl, dass ich meine Mutter tief enttäuschen würde, wenn
ich ihren - angedeuteten - Erwartungen nicht entspräche. Sie hatte mir den Weg
nach Amerika geebnet, und ihren Vorstellungen folgte ich unbewusst. So lebte
ich in dem Widerspruch, dass ich ein freier Mensch zu sein meinte, und doch
nicht den Mut hatte, meine Ziele frei zu wählen. Ich bewahrte mich noch davor,
darüber nachzudenken, was mein innerster, eigener Wunsch wäre. Ich
schob den Gedanken daran beiseite, denn Nachdenken hätte nur Konflikte
heraufbeschworen. Wenn ein behüteter junger Mensch das familiäre Nest verlässt,
verspürt er nicht nur den Drang nach Freiheit im Herzen, sondern auch ein
flaues Gefühl im Magen. Sein Kopf sagt ihm, dass es nicht schaden kann,
gewisse Hilfen seitens der Eltern anzunehmen, die ihm den Start erleichtern. In
der Regel kommt es zu einem »Deal«: Um Hilfen zu erhalten, geht er ganz
bestimmte Verpflichtungen ein, nicht nur äußerliche, sondern auch innerliche,
und meistens unbewusst. Das gehört zum System Familie. Irgendwann wird der
junge Mensch einen Preis zu entrichten, eine Gegenleistung zu erbringen haben.
Erst dann ist vom systemischen Standpunkt aus betrachtet das Gleichgewicht
wiederhergestellt.
    Die
aktuelle Frage lautete:
    Was

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