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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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depp werden,
zumal sich das menschliche Verhältnis mit meinem Vater durch meine Tätigkeit
nicht verbesserte. Im Gegenteil: Nach einer Weile begann er mich so zu
behandeln, wie er in Kanzlerzeiten seine Mitarbeiter behandelt hatte. Als er
dazu überging, mir seine Weisungen immer häufiger durch sein Berliner Büro
mitteilen zu lassen, und es immer schwieriger wurde, gemeinsame Termine zu
finden, dämmerte mir, dass ich unrealistischen Erwartungen aufsaß.
    Auch und
gerade nach dem Tod meiner Mutter suchte ich durch Erfüllung, ja Übererfüllung
von Aufgaben, die mir eigentlich niemand ausdrücklich gestellt hatte, Liebe
und Anerkennung zu erwerben. Mein sehnlichster Wunsch war es, beliebt zu sein
und akzeptiert zu werden. Dieses Streben hatte etwas Verbissenes, geradezu
Obsessives. Gut gemeinte Warnrufe überhörte ich geflissentlich. Ich wurde zum
Musterschüler meiner Mutter.
    Wenn ich
alles richtig mache, dann wird alles gut.
    So mancher
attestierte mir ein Helfersyndrom. Wohl nicht zu Unrecht. Ich rieb mich für die
Bedürfnisse anderer auf und wunderte mich dann, dass ich keine Zeit und Kraft
mehr hatte, mich um meine eigenen zu kümmern. Auch einer meiner Vorgesetzten
trug dazu bei, dass ich schließlich aufwachte.
    »Herr
Kohl, was Sie mit der rechten Hand aufbauen, das zerstören Sie sogleich mit der
linken.«
    Diese
Aussage besagte nichts anderes, als dass ich in der Kollegenschaft als
unausgeglichen und sprunghaft wahrgenommen wurde. Wo ich mir doch zugutehielt,
verlässlich und berechenbar zu sein! Wie unterschiedlich Selbst- und Fremdbild
manchmal doch sein können ...
    Im ersten
Augenblick fand ich sein Urteil zu hart, dabei war es gar kein Urteil, sondern
nur ein ehrliches Feedback. Und der Mann hatte recht: Ich war nicht ich selbst,
ich war eine fremdgesteuerte Kümmer- und Funktionsmaschine, auf verzweifelter
Suche nach Bestätigung und Anerkennung.
    Langsam,
aber sicher kam ich an den Punkt, wo ich wahrnahm, dass ich einen rast- und
ruhelosen Kampf führte. Und so wurde ich auch von anderen wahrgenommen: als ein
mit sich selbst kämpfender, im Grunde immer noch aggressiver Mensch. Der
Unterschied zu früher war lediglich, dass sich meine Aggressivität jetzt mehr
gegen mich selbst richtete. Anders als in meiner Sturm-und-Drang-Zeit reagierte
ich die Energien von Zorn, Groll und der dahinter lauernden Angst nicht mehr
nach außen ab, sondern nach innen. Nach außen hin war dies als Übermotivation
spürbar, mit der ich meine Lieblingsprojekte anging, als ein Zuviel an Ungeduld
im Umgang mit Dingen, die nur mit innerer Ruhe zum Erfolg geführt werden
können, als Kehrtwendung ex abrupto, wenn ich
selbst meinte, nur spontan-kreativ zu sein. Da war noch so viel nicht gewandelte
aggressive emotionale Energie in mir. Ich suchte mir zwar nicht mehr äußere
Gegner, die ich für erlittene oder eingebildete Ungerechtigkeit, Verletzungen
und Zurücksetzungen bestrafen wollte, aber mein inneres Maschinengewehr hatte
ich noch immer geschultert.
 
Und nun?
     
    Konnte es
mit mir so weitergehen? Sollte dies mein Lebensweg bleiben? Wollte ich so
sein? Die Antworten wurden immer deutlicher, immer ernüchternder, um es
zurückhaltend auszudrücken. Nein, dieses Leben war nicht schön, es war verkorkst,
und ich steckte tief in der Sackgasse. Ich spürte immer mehr, dass ich mich nun
entscheiden musste.
    Ich fühlte
mich ausgepumpt, total leer. Ein sonderbares Detail bewies, in welchem Maße
ich mich selbst negierte: Ich verlor meinen Geschmackssinn. Monatelang! Ich
konnte tatsächlich nicht mehr schmecken, was ich aß. Essen degenerierte zur
reinen Kalorienaufnahme. Ich hatte den Geschmack am Leben verloren, ich verlor
mich selbst ...
    Meine
Mutter hatte Selbstmord verübt, meine Ehe war gescheitert, beruflich fühlte
ich mich fehl am Platz, mit einem Wort: Meine ganze Existenz schien sinnlos.
Wohl ging ich allen Tätigkeiten, die von mir erwartet wurden, pflichtschuldigst
nach, doch ich funktionierte wie auf Autopilot. Immer wieder ging sie mir durch
den Kopf, diese Frage:
    Papa, ist
das Leben schön?
    Ich fühlte
mich wie in Packeis eingeschlossen, emotionale Eisbrocken schlossen mich immer
dichter ein. Meine Gefühle und Gedanke waren erstarrt. Ich begann, über den Tod
»nachzudenken«, wie ich es nannte: Im Grunde war es ein emotionales
Sich-Hineinarbeiten in ein existenzielles Grenzland.
    Gibt es
eine Todessehnsucht? Irgendwann ja, spätestens wenn in einem der Wunsch
entsteht, sich an den Tod heranzutasten,

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