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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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Nische,
virtuos im ständigen Justieren des familiären Gleichgewichts. Systemwandel war
undenkbar, das System war nicht einmal zu analysieren. Revolutionen konnte man
mit ihr nicht machen, vielleicht hier und da eine Reform, dafür umso besser das
eine oder andere Reförmchen. Sie kreierte sogar ein besonderes Wort für diese
Philosophie:
    Familienhygiene.
    Meine
Mutter war eine große Macherin, aber sie schien immer ein wenig mit dem Rücken
zur Wand zu stehen. Sie hatte den Mut einer Löwin und war doch in manchen
Situationen ein ausgesprochener Angsthase. Diese Ambivalenz war ihrem Wesen
eingeschrieben.
    So genoss
sie einerseits sichtbar ihre Rolle als First Lady, andererseits litt sie
darunter, dass die politischen Verpflichtungen ihres Mannes weitgehend das
unmöglich machten, was sie ein »vernünftiges Familienleben« nannte. Dabei hätte
sie sich lieber auf die Zunge gebissen, als sich bei ihm darüber zu beklagen.
An seiner Statt mussten wir, ihre Kinder, als Klagemauer herhalten. Sie war
letzten Endes fürchterlich inkonsequent. Ich habe es nur äußerst selten
erlebt, dass meine Mutter einen Konflikt mit meinem Vater bis zum Ende austrug.
Instinktiv begab sie sich in die Rolle der Schwächeren. Das kann ich
mir nicht erlauben.
    Diese
gefühlte Schwäche war wie ein Mühlstein, den sie sich selbst um den Hals
hängte. So schuf sie sich Fesseln, die sie immer wieder zurückhielten und zu
faulen Kompromissen führten. Auch wenn sie sich lautstark über ihren Mann aufregen
konnte, vermochte sie doch nicht zu handeln, wenn dies eine harte
Auseinandersetzung mit ihm bedeutet hätte. Solange er nicht anwesend war,
sprach sie harte Worte, doch in seiner Gegenwart wurde die Angelegenheit auf
Sparflamme gesetzt. Sie konnte sich einfach nicht gegen ihn durchsetzen.
    Wie oft
habe ich mit ihr über dieses Thema diskutiert! Wenn ich ihr dann Vorhaltungen
machte, wandte sie sich ab. Um sich mir zu erklären, erzählte sie häufig die
Geschichte, wie sie zusammen mit ihrer Mutter völlig verarmt und halb
verhungert aus Ostdeutschland nach Mutterstadt bei Ludwigshafen gekommen war.
Die Ankömmlinge aus dem Osten waren bei der ansässigen Bevölkerung wenig
willkommen, hatte man doch selbst kaum genug, um zu überleben. Es war schwer,
das Wenige auch noch zu teilen. Als Flüchtlingskind wurde man gehänselt, es
wurde auch ihr immer wieder zu spüren gegeben, dass sie eine Außenseiterin
war, verwundbar und ungeliebt. Ihr Vater war beruflich bedingt zumeist
abwesend, jeder musste auf sich selbst aufpassen.
    An der
Seite von Helmut Kohl, den sie als Sechzehnjährige kennenlernte, wurde alles
anders. Stolz erzählte sie mir, jeder habe nun gewusst, es würde Ärger geben,
wenn man das Mädchen vom Helmut belästigte. Ich habe die Geschichte Dutzende
Male gehört und immer diesen Blick von Zuerst-Angst-und-dann-Dankbarkeit in
ihren Augen gesehen. Ihr Helmut war für sie der Rettungsanker, der starke Baum,
an den sie sich lehnen konnte und unter dessen Krone sie Schutz und Sicherheit
fand. In ihrer tiefsten existenziellen Krise berührte er ihr Herz. Das hat sie
ihm nie vergessen.
    Meine
Mutter war ein sehr loyaler Mensch. Respekt und Treue galten ihr als die
unverbrüchlichen Grundlagen menschlichen Miteinanders. Egal, was geschehen
mochte, sie folgte ihrem Mann, bis zu ihrem letzten Tag. Ob nicht auch manchmal
Angst und Hilflosigkeit dahinter standen, kann ich nur dahingestellt sein
lassen, es würde möglicherweise die tiefe Ambivalenz erklären, die ihr Denken,
Fühlen und Handeln durchzog.
    Da die
Widersprüche im Leben meiner Mutter mit dem wachsenden politischen Erfolg
meines Vaters immer mehr zunahmen, begann auch ihr innerer Schmerz intensiver
zu werden. Da sie diesem Schmerz nicht aktiv begegnen konnte oder wollte,
blieb ihr nur eiserne Selbstdisziplin, bis hin zur Selbstverleugnung, um ihr
eigenes System aufrechtzuerhalten.
    Funktionieren
um jeden Preis, egal, was Sache ist.
    Das wurde
zu ihrem Credo. Ein weiterer oft gehörter Satz, als universale Empfehlung für
sich selbst und uns Kinder gemeint, war:
    Wenn ich
alles richtig mache, dann wird alles gut. Sie
versuchte mit allen Mitteln, sich mit ihrem Leben als Ehefrau eines
Spitzenpolitikers anzufreunden, und verlor sich dabei immer wieder in
Kompromissen, die ihre persönlichen Bedürfnisse und die Realitäten des
politischen Tagesgeschäftes ausblendeten.
    Bis zum
Schluss tat sie sich schwer, jene gnadenlos interessensgetriebene Grundhaltung,
die sogenannten

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