Kohlenstaub (German Edition)
gehört,
dass der Alte eingefahren ist. Selbst schuld.«
»Detlef!«, tadelte
die große Schwester. »Wie kannst du nur so reden!«
»Ich rede, wie’s
mir gefällt.«
»Hast du auch mal
überlegt, wie es hier weitergeht, wenn Vater nicht mehr alles zusammenhält? Du
rührst doch keinen Finger!«
Ich hörte dem
Geplänkel der Geschwister nur mit halbem Ohr zu. Etwas anderes fesselte meine
Aufmerksamkeit.
Der Abreißkalender
mit den Sprüchen an der Wand zeigte den 17. April. Ostersamstag, die Nacht, in
der Hanning zu Tode kam.
Mittlerweile
schrieben wir den 22. Mai. Niemand hatte die Blätter abgerissen.
Ich wollte Lena
fragen, was es damit auf sich hatte. Doch in diesem Moment betrat eine ältere
Frau in Kittelschürze die Küche. Ich kannte sie vom Sehen. War es Rabenaus
Mutter oder seine Schwiegermutter?
Sie streckte mir
die Hand hin. »Guten Tag, Fräulein Pastor!«
»Guten Tag …«
»Frau Rabenau«,
half sie mir weiter. »Die Mutter von Dachdecker Rabenau. Das ist meine
Enkeltochter!« Sie wies auf Lena.
»Angenehm«,
murmelte ich.
»Ich hörte, mein
Sohn ist verhaftet?«
Klare blaue Augen
richteten sich auf mein Gesicht. Ihre Züge waren fein gemeißelt. Die Haut
wirkte durchsichtig, der Haarknoten über dem Gesicht war weiß mit einem Stich
ins Graue, wie frisch gefallener Schnee im Kohlenpott. Sie musste einmal eine
sehr schöne Frau gewesen sein. Lena sah ihr ähnlich.
»Ihr Sohn hat
gestanden, dass er etwas mit Hannings Tod zu tun hat. Er war in der fraglichen
Nacht im Pfarrhaus …«, berichtete ich stockend.
Wieder sah sie
mich prüfend an. »Das kann nicht sein«, beschied sie. »Mein Sohn war nachts zu
Hause.«
»Sind Sie sicher?«
»Meine
Schwiegertochter hatte einen Anfall. Stundenlang rannte sie in der Wohnung
herum und konnte sich nicht beruhigen. Mein Sohn rief den Arzt an. Er kam und
gab ihr eine Spritze.«
»Erinnern Sie
sich, wann das war?«
»Die Küchenuhr
zeigte kurz nach eins.« Sie blickte auf den hellen, runden Zeitmesser an der
Wand. Für einen Moment hörte man das Ticken im Raum.
»Das muss eine
schlimme Nacht gewesen sein.«
»Sehr schlimm«,
sagte die alte Dame schlicht. »Wir hatten gehofft, sie wäre auf dem Weg der
Besserung. Über Monate hinweg war sie fast normal. Sie kümmerte sich sogar
wieder um den Haushalt. Nun muss wieder ich kochen, wenn Lena zum Studium fort
ist.« Sie seufzte leise.
Lena pikte mit der
Gabel in das halb gare Fleisch und tat so, als interessiere unser Gespräch sie
nicht.
»Und was war an
Ostersamstag?«
»Margit war den
ganzen Tag schon unruhig. Sie wollte ausgeblasene Ostereier bemalen, zerbrach
eines nach dem anderen, wurde wütend, holte die Trinkgläser aus dem Schrank und
warf sie auf den Boden. Mein Sohn war verzweifelt.« Frau Rabenau sprach
einwandfreies Hochdeutsch, aber vermutlich kam sie von hier.
Langsam knöpfte
sie die Kittelschürze auf. Darunter zeigte sich ein blauer Rock, der ihre
Augenfarbe betonte, und eine tadellos gebügelte helle Bluse. »Ich habe meinen
Sohn gewarnt. Doch er wollte sie heiraten und keine andere.«
»Ist die Krankheit
erblich?«
»Das weiß man
nicht. Um Lena mache ich mir keine Sorgen. Detlef allerdings …«
Sie schaute sich
vorsichtig um, doch der Sohn des Hauses hatte die Wohnung schon wieder
verlassen.
Lena wischte das
Spülbecken aus und täuschte immer noch Desinteresse vor.
»Detlef bereitet
uns Kummer. Von klein auf war er anders. Er lässt sich von niemand etwas sagen.
Am liebsten zieht er alleine los.«
»Er hat doch
Freunde in der Siedlung.«
Lena warf die
Spülbürste ins Becken. »Ach was, Freunde. Die hecken nur Unsinn zusammen aus.«
»Karnickel
köpfen«, stimmte ich zu.
»Die kann man alle
in einen Sack stecken und draufhauen, und man trifft immer den Richtigen.«
War das wieder ein
Scherz? Lena verzog keine Miene.
»Warum glauben
Sie, Ihr Sohn könne es nicht gewesen sein? Die Nacht war lang …«, wandte ich
mich wieder an die ältere Dame.
»Er war völlig
erschöpft, nachdem Margit eingeschlafen war.«
Ich versuchte,
mich an den Gottesdienst am Ostersonntag zu erinnern. Rabenau hatte die
nächtlichen Ereignisse nicht erwähnt. Er war sehr still gewesen. In der
halbdunklen Kirche war mir nicht aufgefallen, dass er anders aussah als sonst.
»Wenn Sie sicher
sind, dass Ihr Sohn damit nichts zu tun hat, sollten Sie das dem Kommissar
mitteilen.«
Frau Rabenau sah
mich prüfend an. Dann wandte sie sich wortlos ab.
ZWANZIG
Wieder draußen,
heftete sich
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