Kolibri
stand er jetzt hier, auf der Terrasse der Firma seines Exarbeitgebers, unter ihm, auf der anderen StraÃenseite, ein Haufen Polizisten, Journalisten und Leute von der Rettung und der Feuerwehr, und weiter hinten, von ihm aus gesehen rechts, die Demonstranten, die nach wie vor Schilder, Transparente und T-Shirts mit Aufschriften hochhielten, deren skandierte Forderungen aber, vermutlich eingedenk der späten oder frühen Stunde, in letzter Zeit eher spärlich ausgefallen waren.
âIch ahne, was du vorhastâ, sagte Maria mit ineinander verknoteten Fingern und trat unruhig von einem Fuà auf den anderen. Sie stand in der Terrassentür, unsichtbar für die Leute unten, die Digicam baumelte an einer Kordel um ihren Hals.
âDann schnall dich besser an, Babyâ, sagte Karl und machte einen Schritt zurück, so dass er sich voll im Scheinwerferlicht befand. Mit dem dünnen, nackten Oberkörper, den stacheligen Haaren, den geröteten Augen und dem leicht abwesenden Gesichtsausdruck wirkte er genau so, wie er Maria zuliebe wirken wollte. Wie ein verdammter Rockstar.
Er stemmte eine Hand in seine Hüfte, strich sich mit der anderen ein paar Strähnen aus der Stirn und fing an zu singen.
âErich, schläfst du? Wach auf, Erich! Erich?â
Vor drei Sekunden hatte Widmaiers Handy geklingelt, er hatte es im Halbschlaf aus der Tasche gezogen und quasi in einem Reflex den grünen Hörer gedrückt und sich das Mobiltelefon ans Ohr gehalten. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass das die Stimme seiner Frau war, die seinen Gehörgang malträtierte.Schlagartig war er hellwach. Mit einem Ruck setzte er sich auf, der Liegestuhl ächzte unter seinem Gewicht, und sagte: âKarin, alles in Ordnung? Ist was passiert?â
âSag, schläfst du?â
âJetzt nicht mehr. Was ist denn los?â
âWas ist denn los, verdammt?â, fragte Drechsler, der durch den Lärm geweckt worden war und nun augenreibend versuchte, sich aus den verlockenden Tiefen des Liegestuhls freizukämpfen.
âDas will ich gerade rausfindenâ, sagte Widmaier.
âWas willst du rausfinden?â, fragte Karin.
âWas hier los ist. Warum du mich angerufen hast. Was passiert ist.â
Inzwischen waren auch Kollaritz und Lehner wach, sie hockten mit schlafverquollenen Gesichtern auf den Kanten ihrer Liegestühle und lauschten Widmaiers Teil des Gesprächs. Nubia lag nach wie vor neben dem Stuhl von Kollaritz und wedelte träge mit dem Schwanz.
Drechsler stand auf, streckte sich und zündete sich eine Zigarette an. Dabei fiel sein Blick auf die hellerleuchtete Terrasse auf der anderen StraÃenseite und er stieà Widmaier mit der Schuhspitze an. âIch glaube, ich weiÃ, was los ist.â
âIch auchâ, brummte Widmaier und verstaute das Handy wieder in der Hosentasche. âKarin hat mich gerade aufgeklärt.â
âWas denn?â, fragte Lehner und zerrte seine auf Halbmast gewanderte Krawatte zurecht.
âUnser Bombenleger und Geiselnehmer ist auch noch ein Künstlerâ, sagte Drechsler und deutete zur Fabrik, auf deren Terrasse Karl Michael Baumgartner gerade anfing, seine Rockstarnummer abzuziehen.
âI donât mind a knife in my heart as long as itâs your knifeâ
, sang Karl, blickte Maria in die Augen und versuchte, den lasziven Hüftschwung von Eddie White, dem Sänger von
Svelte Mincer
, nachzumachen, was ihm offensichtlich gar nicht so schlecht gelang, denn Mariagrinste übers ganze Gesicht, ihre kleinen weiÃen Zähne nagten an der Unterlippe und ihr Oberkörper bewegte sich im Takt der unhörbaren Musik, deren Rhythmus Karl durch Klatschgeräusche setzte.
âVerstehst du ein Wort von dem, was der Junge da singt?â, fragte Widmaier.
âNeinâ, sagte Drechsler. âIch glaub, der singt Englisch.â
Sie waren alle nach vorne zum rostigen Gitter gegangen, das den Parkplatz von den StraÃenbahnschienen trennte, um so nahe wie möglich an die Fabrik zu gelangen. Drechsler nahm einen Zug von seiner Zigarette, Widmaier klopfte sich geistesabwesend auf seinen Bauch, Kollaritz und sein Kollege lehnten sich ans Gitter und reckten die Köpfe nach oben wie bei einem Rockkonzert, das es, in gewisser Weise, ja auch war.
âIch hab zwar keine Ahnung, was der Bub da singtâ, meinte Lehner schlieÃlich, âaber eines weià ich sicher, er hat eine
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