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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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Platte und zog die oberste Schublade heraus. Er kramte ein wenig darin herum, fand diverse Stifte, Post-its, Tixo, Büroklammern, das Übliche. In der zweiten Schublade lagen Geschäftsberichte, die Karl überflog, ohne allzu viel zu verstehen. In der untersten Schublade, er musste sich schon ziemlich weit über den Schreibtisch beugen, fand er ein paar Fotos und ein kleines, in teures, goldfarbenes Papier eingewickeltes Päckchen. Er widerstand der Versuchung, das Päckchen zu öffnen und begnügte sich damit, es zu schütteln und daran zu riechen. Parfum, und zwar ein ziemlich exklusives. Vorsichtig legte er das Päckchen wieder in die Schublade und begann, die Fotos durchzuschauen. Auf den meisten waren ein alter Mann und eine alte Frau zu sehen, den Gesichtern nach Verwandte von Patrick Berger, vermutlich seine Eltern. Sie trugen konservative Kleidung, hatten konservative Frisuren und blickten auf den meisten Bildern mit dieser gewissen Unbehaglichkeit in die Kamera, die Leuten eigen ist, die glauben, eigentlich zu uninteressant zu sein, um fotografiert zu werden. Auf dem letzten Bild war eine junge Frau um die zwanzig zu sehen, die ihre Zunge herausstreckte und die Augen verdrehte. Bergers Schwester? Eine Freundin? Seine Geliebte? Mit einem seltsamen Gefühl legte Karl die Fotos zurück in die Schublade. Er hatte Berger immer nur als Karrierist gesehen, als jemanden, der über Leichen ging, um seine Ziele zu erreichen. Dass Patrick Berger ein normaler Mensch mit Eltern und möglicherweise Geschwistern oder einer Freundin war, stimmte ihn unbehaglich. Andererseits, Berger würde ihm ja seinen Job wiedergeben, weshalb also sollte er ihn nicht mögen?
    Karl kletterte vom Schreibtisch und warf einen neuerlichen Blick zur Bürotür. Seine Nervosität wich zusehends einer gewissen Unruhe. Wo blieb Berger so lange? Karl tapste im Büro umher, strich mit den Fingern über die Möbel, schnippte gegen die heruntergelassenen Jalousien, trat gegen die geschlossene Balkontür, zog wahllosBildbände aus den Regalen, die er oberflächlich durchblätterte, ehe er sie wieder zurückstellte. Hinter einem der großformatigen Bücher entdeckte er eine zerdrückte Packung Pall Mall und während er noch mit sich rang, hatte er in der Linken schon eine Zigarette und in der Rechten ein schmales Feuerzeug, das sich ebenfalls in der Packung befunden hatte. Vorsichtig steckte er sich die Zigarette in den Mund, zündete sie umständlich an und inhalierte. Er wurde nicht ohnmächtig, ihm wurde nicht schwarz vor Augen, er musste nicht einmal husten. Bruce und ich, dachte er wieder, wir zwei. Er betrachtete die Packung mit der Aufschrift
In hoc signo vinces
, und da er in der Schule Latein gelernt hatte – seine Lehrer hatten ihm eingebläut, man lerne fürs Leben, nicht für die Schule, was sich hier gerade bewahrheitete –, wusste er auch, was der Spruch bedeutete. Damit gewinnst du. Was ja auch stimmte. Er war hier, im Büro des Chefs, rauchte eine seiner Zigaretten und wartete darauf, dass seine Kündigung rückgängig gemacht wurde. Während er genüsslich den Rauch inhalierte, sickerte grelles Licht durch die Lamellen der Jalousien und ergoss sich auf den Boden. Irritiert ging Karl zur Terrassentür, öffnete sie und trat hinaus ins Freie. Beim Anblick, der sich ihm bot, musste er, ganz und gar nicht Bruce Willis, husten. Auf der anderen Straßenseite, auf dem großen Platz vor dem Haupttor des Zentralfriedhofs, befanden sich unzählige Polizisten. Und alle starrten sie zu ihm, Karl Michael Baumgartner, herauf.
    Und plötzlich waren sie da, die Kopfschmerzen.
    Maria Eichinger schloss die Augen und wackelte mit dem Kopf. Schwindlig? Nein. Auf der Fahrt vom Sechzehnten raus zum Zentralfriedhof hatte sie den Großteil des Betons wieder ausgeschwitzt und das bisschen Restalkohol spürte sie eigentlich gar nicht. Die Fahrt war schrecklich gewesen. Isabella war neben ihr gesessen, die Kakerlake namens Dimitri auf dem Schoß, hatte halblaut vor sich hingesungen und Maria unverständliche Richtungsanweisungen zugeraunt. Maria, die von Anfang an dagegen gewesen war, dieChauffeurin für Isabella zu spielen, hatte schließlich die Schnauze voll gehabt und ihre Kollegin samt Kater bei der U3-Station Simmeringer Hauptstraße rausgeschmissen. Isabella hatte betrunken herumgeflucht und gesagt, von hier aus finde sie die

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