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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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mit einem dumpfen Geräusch zerplatzte.

VIERZEHN
    Stirb langsam
, dachte Karl, als er sich aufrichtete, die Beine vom Sofa schwang und mit den Füßen in den scharfkantigen Überresten der Rumflasche landete. Fluchend zupfte er sich die Scherben aus der Hornhaut und warf sie zur Seite. Jetzt brauchte er nur noch ein blutiges Unterhemd und eine Knarre, dann war er Bruce Willis. Nun, er hatte keine Knarre und ein Unterhemd trug er auch nicht, sondern sein
Mudhoney
-T-Shirt, aber er hatte zumindest seinen Job wieder, oder? Vorsichtig humpelte er im Büro herum und hielt Ausschau nach Berger. Niemand hier. Karl ließ sich auf den wuchtigen Ledersessel hinter Bergers Schreibtisch fallen und griff sich an die Stirn. Seltsam, er verspürte keinerlei Kopfschmerzen. Sein Mund war ein wenig ausgetrocknet und wenn er die Augen schloss, tanzten bunte Schlieren auf seiner Netzhaut, die letzten Überreste des Rums, die sich gewaltsam Zutritt zu seinem Bewusstsein zu verschaffen versuchten, aber sonst, tja, sonst ging es ihm eigentlich ganz gut. Bruce Willis hatte im Nakatomi Tower seine Frau aus den Händen von Terroristen gerettet und Karl hatte seinen Job im Büro von Patrick Berger zurückerkämpft. Bruce und ich, dachte er, wir zwei, und wunderte sich, dass er kein bisschen mehr betrunken war.
    Er stand auf und tappte ins Badezimmer, wo er sich das Gesicht wusch und einen Schluck Wasser direkt vom Hahn trank, was ihm seine Mutter immer verboten hatte zu tun. Dann durchsuchte er den Alibert, fand eine Packung Pflaster und eine kleine Flasche Merfen Orange, setzte sich auf den Rand der Duschtasse und schmierte seine Fußsohlen mit Desinfektionsmittel ein. Anschließend pappte er die Pflaster so gut es ging über die nicht sehr tiefen Schnitte, legte das Zeug zurück in den Alibert und ging wieder ins Büro, wo immer noch keine Spur von Berger zu sehen war. Karl konnte sich nicht mehr genau an das Gespräch, das sie miteinander geführt hatten, erinnern, aber er, Karl, hatte das Gefühl, seinen Standpunktlogisch, aber zugleich auch eindringlich vertreten zu haben. Wahrscheinlich, so dachte Karl, war Berger gerade irgendwo im Gebäude unterwegs, um die Kündigung aus dem Postausgangskorb einer Sekretärin zu fischen und dem Reißwolf zu überantworten.
    Die nächsten Minuten verbrachte er damit, auf dem Sofa zurückgelehnt an die Decke zu starren. Manchmal flackerte in seinem Hinterkopf ein dumpfer Schmerz auf, ein Pochen, das ihn darauf hinzuweisen schien, dass in seinem Leben etwas nicht stimmte, gravierend nicht stimmte, aber Karl klopfte sich dann an die Stirn, und das Pochen war verschwunden. Alles läuft bestens, sagte er sich. Du hast deinen Job wieder, Rocín wird sein Geld bekommen, du wirst dein Versprechen halten. Alles läuft bestens.
    Als Berger nach rund fünf Minuten immer noch nicht aufgetaucht war, wurde Karl ein wenig nervös. Er erhob sich vom Sofa, wich den Scherben aus und ging im Büro auf und ab. Er schaute sich um. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie groß und luxuriös dieser Raum war. Er hatte sich des Öfteren hier aufgehalten, beim Vorstellungsgespräch und manchmal, selten, bei Besprechungen, aber bei diesen Gelegenheiten war er viel zu konzentriert – oder nervös? – gewesen, um mehr als einen vagen Eindruck von zurückhaltender Eleganz wahrzunehmen. Jetzt, ohne Zeit- oder sonstigen Druck, konnte er Bergers Reich genauer unter die Lupe nehmen. Die Wände waren in einem zarten Pfirsichton gestrichen, der Boden unter den Teppichen bestand aus sehr hellem, beinahe weißem Parkett, das glänzte wie Marmor. Die Regale an den Längswänden waren schmale Glasstreifen, die ohne sichtbare Befestigung der Schwerkraft zu trotzen schienen und kleinen, penibel bemalten Gipsfiguren, halbnackte Asiaten in Kampfposen, Platz boten. In einer Ecke stand ein Kubus aus geriffelten Glasplatten, auf dem sich ein riesiger Fernseher befand und in dessen Schlund ein Video- und DVD-Player hockten. Dem Schreibtisch schräg gegenüber gab es zwei wuchtige, U-förmige Ledersessel, die auf L-förmigen Metallsockeln ruhten und den Blick auf ein niedriges, A-förmiges Regal verdeckten, in dem diverse Bildbände standen. Karl war von einemAlphabet aus Möbeln umzingelt. Nur der Stahlrohrsessel, der passte nicht so recht ins Bild.
    Er warf einen Blick zur Bürotür, dann ging er zum Schreibtisch, setzte sich auf die

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