Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
Kartoffel» für die Süßkartoffel. [26]
Kartoffeln bestehen zu drei Vierteln aus Wasser und einem Viertel aus Stärke, besitzen aber genügend Vitamine, um, in ausreichender Menge verzehrt, Skorbut zu verhindern. 1925 aßen zwei polnische Forscher 167 Tage lang fast nichts anderes als Kartoffeln: gestampft mit Butter, gekocht mit Salz, in Scheiben mit Öl als Kartoffelsalat. Am Ende berichteten sie, dass sie nicht zugenommen, keine Gesundheitsprobleme bekommen und, was kaum glaubhaft ist, «kein Verlangen nach einer Veränderung» ihrer Ernährungsweise verspürt hätten. Historisch betrachtet, war die Diät der beiden Wissenschaftler gar nicht so extrem; zwei britische Untersuchungen im Jahr 1839 ließen darauf schließen, dass der durchschnittliche irische Arbeiter pro Kopf und Tag zwölfeinhalb Pfund Kartoffeln verzehrte. Der Konsum der Iren war berüchtigt, doch die Knolle hatte sich in ganz Nordeuropa so unentbehrlich gemacht, dass Preußen und Österreich 1788 / 89 einen «Kartoffelkrieg» führten, bei dem beide Heere den größten Teil ihrer Zeit damit verbrachten, sich um Nahrungsmittel zu balgen und sie dem Feind nach Möglichkeit vorzuenthalten. Erst als auch die letzte Kartoffel in Böhmen aufgegessen war, endeten die Feindseligkeiten. [409]
Im Vergleich zu Getreide sind Kartoffeln von Natur aus ergiebiger. Wenn die Ähre einer Weizen- oder Reispflanze zu groß wird, fällt die Pflanze um und geht ein. Heute haben Pflanzenzüchter Weizen- und Reisarten mit kürzeren, kräftigeren Halmen entwickelt, die größere Kornlasten aushalten. Doch selbst sie könnten nichts tragen, was so schwer ist wie eine Idaho-Kartoffel. Da sich die Kartoffelknolle unterirdisch entwickelt, wird ihr Wachstum nicht vom Rest der Pflanze eingeschränkt – es gibt keine Probleme mit der Architektur der Pflanze. 2008 hat ein Libanese eine Kartoffel ausgegraben, die fast fünfundzwanzig Pfund wog. Fotografien zeigen einen Mann mit einer Knolle, die größer ist als sein Kopf. [410]
Viele Forscher glauben, die Einführung von
S. tuberosum
nach Europa sei ein historischer Vorgang von entscheidender Bedeutung gewesen. Ihr Argument: Die Ausbreitung des Kartoffelkonsums fällt weitgehend mit dem Ende des Hungers in Nordeuropa zusammen; Mais, eine andere amerikanische Nahrungspflanze, spielte eine ähnliche, wenn auch geringere Rolle in Südeuropa. Der namhafte Historiker William H. McNeill vertritt sogar die Auffassung,
S. tuberosum
habe die Gründung von Weltreichen ermöglicht: «Durch die Fähigkeit, rasch wachsende Bevölkerungen zu ernähren, ermöglichte die Kartoffel einer Handvoll europäischer Nationen, zwischen 1750 und 1950 die Herrschaft über den größten Teil der Welt anzutreten.» Die Beendigung des Hungers trug zu der politischen Stabilität bei, dank der die europäischen Nationen vom amerikanischen Silber profitieren konnten. Die Kartoffel war eine Voraussetzung für den Aufstieg des Westens.
Genauso wichtig war auf lange Sicht der Umstand, dass die Einbürgerung der Kartoffel in Europa und Nordamerika zum Vorbild für die moderne Landwirtschaft wurde – den agroindustriellen Komplex, wie er manchmal genannt wird. Von den Agronomen wegen seiner reichlichen Ernten gepriesen und von den Umweltschützern wegen seiner Giftigkeit angeprangert, ruht der agroindustrielle Komplex auf drei Grundpfeilern: verbesserten Pflanzen, Hochleistungsdünger und industriell hergestellten Pestiziden. Alle drei sind verknüpft mit dem kolumbischen Austausch und der Kartoffel.
Der kolumbische Austausch brachte nicht nur die extrem produktive Kartoffel nach Europa und Nordamerika, sondern auch die ebenso produktive andine Kartoffelanbautechnik, zu der auch der erste Intensivdünger der Welt gehörte: peruanischer Guano. Die Andenvölker bauten ihn seit Jahrhunderten aus großen Ablagerungen ab, die die Exkremente von Seevögeln auf Inseln vor der Küste hinterlassen hatten. Hunderte von Düngerfrachtern überquerten den Atlantik, bis zum Rand voll mit Guano – und, wie viele Forscher glauben, mit einem pilzartigen Organismus, der Kartoffeln befällt und in Irland eine Hungersnot verursachte, die in mancherlei Hinsicht die schlimmste in der dokumentierten Geschichte war.
Nicht lange danach fielen die Kartoffeln dem Angriff einer weiteren importierten Art zum Opfer, dem Kartoffelkäfer. In ihrer Panik griffen die Landwirte zum ersten anorganischen Pestizid: einer fast überall erhältlichen Form von Arsen, mit der die Felder
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