Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
Kartoffeln. Er stammt aus dem Süden Zentralmexikos, wo er sich vom Stachel-Nachtschatten
(Solanum rostratum)
ernährte, einem kniehohen, mit der Kartoffelpflanze verwandten Kraut, dessen Blätter eine gewisse Ähnlichkeit mit Eichenblättern haben. Aus menschlicher Sicht ist die Pflanze ärgerlich stachlig, mit klettenartigen Samenschoten, die sich in Haaren und Kleidern verfilzen und ohne Handschuhe kaum zu entfernen sind. Biologen glauben, dass der Stachel-Nachtschatten auf Mexiko beschränkt blieb, bis die Spanier, als Akteure des kolumbischen Austauschs, Pferde und Kühe auf den amerikanischen Kontinent brachten. Rasch erkannten die Indianer die Nützlichkeit dieser fremden Säugetiere, stahlen so viele wie sie konnten und schickten sie als Reit- und Schlachttiere nach Norden zu ihren Familien. Mit den Tieren kam der Stachel-Nachtschatten, verklettet in Pferdemähnen, Kuhschwänzen und den Satteltaschen der Indianer. Der Pflanze folgte der Käfer, indem er sich auf ihrer Spur über Koppeln und Pferche vorwärtsarbeitete. Nach seiner Ankunft in Texas könnte der Nachtschatten von Bisons weitergetragen worden sein, die im Frühling von Süden nach Norden wanderten. 1819 war das Insekt im Mittleren Westen angelangt, wo ein Naturforscher am Missouri beobachtete, wie es sich an Stachel-Nachtschatten gütlich tat. In diesem Gebiet traf es auf die Kulturkartoffel.
Dann kam der Zufall zu Hilfe. In Mexiko, wo der Käfer auf Stachel-Nachtschatten spezialisiert ist, verschmäht er die Köstlichkeiten von
S. tuberosum
; setzt man ihn auf ein Kartoffelblatt, setzt er seine Nahrungssuche unverdrossen fort. Doch ein Käfer schlüpfte Mitte des 19 . Jahrhunderts im Mittleren Westen mit einer winzigen Mutation – vielleicht, so lässt eine interessante Studie vermuten, eine winzige Verlagerung an einer Stelle seines zweiten Chromosomenpaars, ein DNA -Abschnitt, der sich vollkommen drehte. Die Mutation reichte nicht aus, um dem Käfer ein anderes Aussehen zu verleihen oder auf seine Reproduktionsfähigkeit einzuwirken. Aber sie war wohl groß genug, um seine Geschmacksneigungen vom Stachel-Nachtschatten auf die Kartoffel auszuweiten. [481]
«Die Nachkommen eines Paares würden sich, wenn sie ein Jahr lang ungestört blieben, auf mehr als 60 Millionen Exemplare belaufen», rechnete die
New York Times
1875 aus. Die tatsächliche Zahl dürfte eher bei 16 Millionen liegen, aber das ändert nichts an dem Umstand: ein einziges genetisches Zufallsereignis in einem einzigen Individuum reichte aus, um ein weltweites Problem zu schaffen. Der Käfer ist bis heute der größte Kartoffelschädling. «Eine der schlimmsten Eigenschaften der gegenwärtigen Heimsuchung», so heißt es in dem Artikel weiter, «ist die Hartnäckigkeit des Kartoffelkäfers. Selten gibt er einen Standort auf, bevor er die Ernte nicht mehrere Jahre hintereinander vernichtet hat … Unter solchen Umständen bleibt als einziges Mittel ein aggressiver Krieg gegen die Käfer.» [482]
Krieg mit welchen Waffen? Die Bauern versuchten alles Erdenkliche: Sie sammelten die Käfer ein und zerquetschten sie mit Spezialzangen, bemühten sich, Kartoffelsorten zu züchten, die weniger verlockend für den Käfer waren; sie unterstützten die natürlichen Fressfeinde des Insekts wie Marienkäfer, Weichkäfer oder bestimmte Arten des Sandlaufkäfers und verlegten die Kartoffeläcker in jeder Saison, um zu verhindern, dass die Käfer im Boden überwinterten – eine Insektenversion des Winterschlafs; sie umgaben ihre Äcker mit Stachel-Nachtschatten, «um die Insekten zu konzentrieren, damit sie sie besser vernichten konnten» – hier zitiere ich Charles Valentine Riley, den Gründer und langjährigen Vorsitzenden der US -amerikanischen Entomological Commission. Ein Erfinder pries seinen von Pferden gezogenen Käferbeseitiger, der die Insekten in eine nachgezogene Kiste harkte. Die Kartoffelbauern übergossen die Pflanzen mit Kalk, versetzten Bewässerungsanlagen mit Schwefel, streuten Asche, versprühten Tabaksaft. Sie mischten Steinkohlenteer mit Wasser und bespritzten die Käfer damit. Angeblich haben es einige Bauern mit Wein probiert. Andere mit Kerosin. Nichts zeigte Erfolg. [483]
Insekten plagen Bauern seit dem ersten Pflanzenanbau in der Jungsteinzeit. Doch die großflächige Agrikultur veränderte gewissermaßen die Anreize. Über Jahrtausende hatte sich der Kartoffelkäfer mit dem Stachel-Nachtschatten zufriedengegeben, der verstreut in den mexikanischen Hügeln
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