Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Stück hatte gerade einmal zwei Kilo gewogen. Aber egal, die Todeszeitpunkte der Kopiemorde hatten bislang ungefähr mit den Originalzeiten übereingestimmt, weshalb sie davon ausgegangen waren, dass bis zum Abend nichts passierte.
Von Westen her zogen Wolken auf. Regnen sollte es nicht, aber es würde dunkler werden, was schlecht für die Sicht war. Auf der anderen Seite wurde es dann vielleicht ein bisschen milder. Sie hätte wirklich einen Schlafsack mitnehmen sollen. Ihr Handy vibrierte. Katrine nahm es.
»Was läuft bei euch?« Es war Beate.
»Nichts zu berichten«, sagte Katrine und kratzte sich im Nacken. »Abgesehen von der globalen Klimaerwärmung. Es fliegen schon Gnitzen, und das im März.«
»Mücken, meinst du?«
»Nein, Gnitzen. Das sind … na ja, so Viecher, die wir in Bergen auch haben. Hast du irgendwelche interessanten Anrufe bekommen?«
»Nein, hier gibt’s nur Erdnussflips, Pepsi Max und Gabriel Byrne. Sag mal, ist der hot oder doch schon ein bisschen zu alt?«
» Hot . Was guckst du dir an? In Treatment? «
»Erste Staffel. DVD 3.«
»Ich dachte, du wärst gefeit gegen Kalorien und DVD s. Jogginghose?«
»Mit ultraschlappem Gummi. Ich muss es doch irgendwie ausnutzen, dass Tulla nicht hier ist.«
»Sollen wir tauschen?«
»Nee. Ich sollte auflegen, falls mein Prinz anruft. Halt mich auf dem Laufenden.«
Katrine legte das Handy neben das Funkgerät. Nahm das Fernglas und suchte noch einmal den Weg vor dem Haus ab. Im Prinzip konnte er von überall kommen. Nur nicht über die Zäune auf beiden Seiten der Schienen, über die gerade die Straßenbahn rumpelte. Aber aus Richtung Damplassen konnte er im Grunde über jeden der vielen Waldwege kommen, und es war nicht auszuschließen, dass er sich durch die Nachbargärten in Bergslia näherte, besonders jetzt, da es dunkel wurde. Aber wenn er sich sicher fühlte, gab es keinen Grund, nicht über die Straße zu kommen. Eine Person fuhr auf einem alten Fahrrad in Schlangenlinien den Berg hinauf, möglicherweise ein Betrunkener.
Was Harry wohl heute Abend machte?
Niemand wusste wirklich, was Harry machte, nicht einmal, wenn man ihm gegenübersaß. Mister Geheimnisvoll. Harry war einfach nicht wie die anderen. Und ganz sicher nicht wie Bjørn Holm, bei dem alle Gefühle offenlagen. Erst gestern hatte er ihr erzählt, dass er sich sämtliche Merle-Haggard-Platten anhören wollte, während er auf den Anruf wartete, und essen wollte er dabei selbstgemachte Elchfrikadellen aus Skreia. Als sie laut gelacht hatte, hatte er gesagt, er würde sie, wenn das alles hier vorbei war, mal zu sich nach Hause zu Mamas Elchfrikadellen mit Pommes einladen und sie in die Geheimnisse des Bakerfieldsounds einweihen. Vermutlich das einzige Geheimnis, das er hatte. Kein Wunder, dass der Kerl Single war. Er schien sein Angebot zu bereuen, als sie höflich abgelehnt hatte.
Truls Berntsen fuhr durch Kvadraturen. Wie er es fast jeden Abend tat. Er rollte langsam auf und ab, kreuz und quer. Dronningens gate, Kirkegata, Skippergata, Nedre Slottsgate, Tollbugata. Das hier war mal seine Stadt gewesen. Und es würde wieder seine Stadt werden.
Im Polizeifunk ging es jetzt hin und her. Verschlüsselungen, die wegen ihm, Truls Berntsen eingerichtet worden waren, damit er außen vor blieb. Die Idioten glaubten vermutlich wirklich, dass er sie nicht verstand. Aber so schnell war er nicht hinters Licht zu führen. Truls Berntsen drehte den Spiegel richtig und warf einen Blick auf die Dienstwaffe, die auf dem Beifahrersitz lag. In der Regel war es umgekehrt. Er führte sie hinters Licht.
Die Frauen auf den Bürgersteigen ignorierten ihn. Sie kannten sein Auto und wussten, dass er nicht an ihren Diensten interessiert war. Ein geschminkter junger Typ in einer viel zu engen Hose schwang sich um ein Halteverbotsschild wie beim Poledance. Dann schob er seine Hüfte vor und warf Truls einen Kussmund zu, den der mit dem erhobenen Mittelfinger beantwortete.
Die Dunkelheit schien ein bisschen dichter geworden zu sein. Truls beugte sich zur Windschutzscheibe vor und blickte nach oben. Von Westen her zogen Wolken auf. An einer roten Ampel blieb er stehen. Sah noch einmal auf den Sitz neben sich. Er hatte sie wieder und wieder hinters Licht geführt, und damit sollte noch lange nicht Schluss sein. Das hier war seine Stadt, die niemand ihm wegnehmen würde.
Er legte die Pistole ins Handschuhfach. Die Mordwaffe. Es war lange her, aber das Gesicht sah er noch immer vor sich. René
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