Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
hatte er ihn in der Hand gehalten wie eine Marionette. Aber jetzt war das anders. Es war etwas Dunkles, Böses, Unberechenbares über seinen Freund aus Kindertagen gekommen.
»Ich brauche eine Antwort. Es eilt.«
»Okay«, sagte Truls und leerte sein Glas. »Es wäre schon gut, nicht mehr suspendiert zu sein. Aber ich will noch etwas dazu.«
»Was?«
»Einen von Ullas getragenen Slips.«
Mikael starrte Truls an. War er betrunken? Oder war dieses verrückte Glitzern in seinen glasigen Augen schon immer da gewesen?
Truls lachte noch lauter und knallte das Glas so heftig auf den Tisch, dass die anderen Gäste sich umdrehten.
»Ich …«, begann Mikael, »werde sehen, was ich …«
»Ich verarsch dich doch, Mann!«
Mikael lachte kurz. »Logisch, meinst du etwa, ich habe das ernst genommen? Heißt das, du …?«
»Mann, wir sind doch wohl Freunde, oder?«
»Natürlich sind wir das. Du weißt ja gar nicht, wie dankbar ich dir dafür bin, Truls.« Mikael rang sich ein Lächeln ab.
Truls streckte seinen Arm aus und legte Mikael schwer die Hand auf die Schulter.
»Doch, ich glaube schon.«
Zu schwer, fand Mikael.
Es gab keine Vorbesprechung, kein Kartenstudium, keine Auswertung der Gebäudepläne über mögliche Fluchtwege, Flure und Notausgänge. Nicht einmal die Straßen, über die die Geländewagen des Einsatzkommandos Delta sich näherten, wurden mit Streifenwagen abgeriegelt. Sivert Falkeid briefte seine Leute noch während der Fahrt und gab bellend seine Befehle. Die schwerbewaffneten Männer schwiegen. Sie hatten verstanden.
Es kam auf jede Sekunde an, und der beste Plan der Welt war nichts wert, wenn der Vogel bereits ausgeflogen war.
Harry saß hinten im Neunsitzer, hörte zu und wusste, dass der Plan nicht einmal im vorderen Mittelfeld rangierte.
Falkeid hatte ihn als Erstes gefragt, ob er glaube, dass Valentin bewaffnet sei. Harry hatte geantwortet, dass bei dem Mord an René Kalsnes eine Schusswaffe benutzt worden sei und dass er auch davon ausgehe, dass Beate Lønn mit einer Waffe bedroht worden sei.
Er betrachtete die Männer, die vor ihm saßen. Polizisten, die sich freiwillig für bewaffnete Aufträge gemeldet hatten. Sie erhielten dafür einen Zuschlag, aber üppig war der nicht, das wusste er. Dafür waren die Erwartungen, die die Steuerzahler an einen Beamten des Sondereinsatzkommandos hatten, verdammt hoch. Oft wurde Kritik laut, die Delta-Truppe schrecke vor gefährlichen Aufträgen zurück und habe keinen sechsten Sinn, der ihnen sagte, was hinter einer verschlossenen Tür, im Inneren eines entführten Flugzeugs oder an einem bewaldeten Strand vor sich ging, damit sie ohne Verzögerung stürmen konnten. Für einen Kommandopolizisten mit durchschnittlich vier bewaffneten Einsätzen pro Jahr, also rund hundert Aufträgen im Laufe seiner 25-jährigen Karriere, wäre ein solches Vorgehen gleichbedeutend mit der offenen Aufforderung, im Dienst getötet zu werden. Doch damit nicht genug, denn der Tod eines Beamten war die sicherste Möglichkeit, einen Einsatz zum Scheitern und die anderen Kollegen in Gefahr zu bringen.
»Es gibt nur einen Aufzug!«, bellte Falkeid. »Zwei und Drei, den nehmt ihr. Vier, Fünf und Sechs, ihr nehmt die Haupttreppe, Sieben und Acht die Feuertreppe. Hole, du und ich überwachen den Außenbereich, falls er aus einem der Fenster zu flüchten versucht.«
»Ich habe keine Waffe«, sagte Harry.
»Hier«, sagte Falkeid und reichte eine Glock 17 nach hinten durch.
Harry nahm sie entgegen und spürte die solide Schwere und Balance der Waffe.
Er verstand Waffenfreaks ebenso wenig wie Leute, die nichts anderes als Autos im Kopf hatten oder ihre Häuser auf ihre Hi-Fi-Anlagen zuschnitten. Dabei hatte er nie eine Abneigung dagegen empfunden, eine Waffe in der Hand zu halten. Das war erst seit dem letzten Jahr so. Er dachte an die Odessa im Eckschrank. Und verdrängte den Gedanken.
»Wir sind da«, sagte Falkeid. Sie hielten in einer wenig befahrenen Straße vor einem herrschaftlich aussehenden, vierstöckigen Haus, das den anderen Häusern in der Gegend zum Verwechseln ähnlich sah. Harry wusste, dass in einigen dieser Villen der alte Geldadel wohnte, in anderen neureiche Leute, die wie die alten aussehen wollten, während in den übrigen Gebäuden Botschaften, Werbeagenturen, Plattengesellschaften und kleinere Reedereien residierten. Nur ein bescheidenes Messingschild am Torpfosten verriet, dass sie am richtigen Ort waren.
Falkeid hielt die Uhr hoch.
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